Der Spion der Fugger Historischer Roman
lebte! Zahllose Blitze verteilte er von der Spitze bis in die Schwärze des Himmels hinein, in denen sich das gespenstische Leuchten und Flackern verlor. Immer neue Blitze züngelten aus der hohen Mastspitze. Und jetzt war es nicht nur der Großmast, der stets weitere Lichtäste zu gebären schien; auch der kleinere Fockmast davor und der Besanmast dahinter streuten nun knisternde, lodernde Blitze in die Finsternis.
»Elmsfeuer!«, hörte Sachs eine erstickte Stimme durch das Chaos brüllen. Er glaubte, es müsse der Kapitän gewesen sein, der dem Angst einflößenden Phänomen einen Namen geben wollte.
Der Fugger-Agent wusste nicht, welchem Geschehen er zuerst seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Zu viel geschah jetzt gleichzeitig, zu viel Neues wurde für seine überlasteten Sinne sichtbar und hörbar. Er konzentrierte sich auf das nun gleichmäßig wiederkehrende Blitzen auf den Masten. Eine Böe erfasste das Schiff, sodass es sich für einen Moment noch stärker gegen die Wasseroberfläche neigte; dann schaukelte der Bug in ein besonders tiefes Wellental, und die Gischt spritzte in einer hohen Woge über das Hauptdeck bis zum Achterkastell hinauf.
Von einem Moment auf den anderen setzte das Elmsfeuer aus. Masten und Schiff lagen wieder in Dunkelheit, nur die Ankerlaterne spendete weiter ihr Licht. Dann brannte ein gewaltiger Blitz durch die Sturmnacht. Er war backbord voraus ins Meer geschlagen, nach Süden hin, also aus der Richtung, aus der das Unwetter über sie hereingebrochen war. Sachs fühlte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Einen Augenblick später krachte das Getöse eines gewaltigen Donners, und das ganze Schiff schien zu erzittern. Doch das war es nicht allein, was Amman Sachs vor Entsetzen aufschreien ließ: Er hatte im grellen Schein des Wetterleuchtens irgendetwas gesehen, hatte aber nicht erkennen können, was es war.
Das Elmsfeuer leuchtete wieder auf und ließ die Masten der
Aviso
erneut aufflammen. Der Fugger-Agent schaute hinauf. Er sah, wie der Orkan an den Segeln zerrte. Zwar ächzte und stöhnte die gesamte Takelung, aber noch hielt sie der Gewalt des Sturmes stand.
Wieder erlosch das Geisterlicht an den Masten. Instinktiv blickte Sachs nach Süden, wo eben der gewaltige Blitz eingeschlagen war, als auch schon ein weiterer Lichtstrahl durch die Nacht zuckte, an der Unterseite der Wolkenbank entlang, deren wirbelnde Dynamik für eine schreckliche Sekunde erneut sichtbar wurde. Dann lenkte der gleißende Lichtast nach unten ab und schlug in einen gespenstisch illuminierten, riesigen Wellenkamm ein. Doch die gigantische Woge, die in vielleicht einer halben Meile Entfernung direkt auf die
Aviso
zuzurollen schien, war es nicht, was die Aufmerksamkeit des Fugger-Agenten fesselte. Seine Augen weiteten sich, so unglaublich war der Anblick dessen, was mit erschreckender Geschwindigkeit auf sie zukam.
Es war ein anderes Schiff, das mit voll gesetzten Segeln vor dem Wind den Wasserberg herunterraste und die Fahrrinne der
Aviso
zu kreuzen drohte. Der Anblick war so geisterhaft, so unfassbar, dass Sachs ihn für ein Trugbild hielt, nachdem das grelle Licht des Blitzes verloschen und die Welt wieder vom tiefen Schwarz verschluckt worden war.
Diesmal aber kehrte nicht erst das Elmsfeuer zurück. Das Inferno des Gewittersturms brach jetzt mit aller Gewalt los. Immer neue Feuerstrahlen schossen durch die Nacht und ließen den heranbrausenden anderen Segler nun zur Gewissheit werden.
»Schiff voraus!«, gellte auch schon ein Schrei über das jetzt von immer neuen Wellen umtoste Deck des Depeschenboots. Der Fugger-Agent fühlte, wie der hölzerne Körper der
Aviso
für eine Schrecksekunde im Nichts zu verharren schien. Dann schlug das Schiff mit ungeheurer Wucht nach Steuerbord herum und in den Wind hinein, um dem heranrasendem Klipper auszuweichen, indem es sich parallel zu ihm stellte. Sachs erkannte, dass es in der noch verbleibenden knappen Zeit bis zur anderenfalls unvermeidbaren Kollision die einzige Möglichkeit war, dass Depeschenboot aus der Fahrlinie des anderen Schiffes zu manövrieren.
Dem Fugger-Agenten fiel es schwer, auf den Beinen zu bleiben, so sehr stampfte und schlingerte die
Aviso
jetzt. Mit beiden Händen hielt er sich krampfhaft an der Reling hinter sich fest. Genau auf dem Zenit der Wende, die das Schiff beschrieb, hörte er den lauten, verzweifelten Schrei eines Seemanns, der oben in den Rahen gehangen haben musste, um die Segel zu sichern, und der nun in hohem Bogen
Weitere Kostenlose Bücher