Der Spion der Zeit
eingetroffene Post wurde ihm nachgesandt. Er war entschlossen, Van Upp zu werden. Zwei besondere Umstände waren ihm hierbei von Nutzen. Gegenüber dem gemeinen Sterblichen hatte er einen Vorteil: Er war sich bewusst, dass es weniger ein natürlicher Prozess war, jemand zu werden – Van Upp in diesem Fall –, denn eine Konstruktion.
Das Haus auf der Insel war der ideale Ort. Es gab keinerlei Ablenkung. Er konnte sich vollständig darauf konzentrieren, Van Upp zu sein, bis in die letzte Konsequenz.
Und dies war der zweite Umstand, der ihm allerdings nicht bewusst war: In seiner Willenskraft ähnelte er bereits dem, der er früher gewesen war, der er immer war.
II
In den Tagen nach Prades’ Verschwinden wurde über nichts anderes als das berichtet. Mehr als vierhundert Polizisten durchkämmten Trinidad auf der Suche nach dem General, von Norden nach Süden, von Osten nach Westen. Und es gab Klagen. Einwohner von Provos gaben an, Gruppen von Soldaten in Zivil hätten sich mit offiziösem Gebaren Zutritt in ihre Häuser verschafft, alles durchsucht und Befragungen ohne richterliche Anordnung durchgeführt.
Am vierten Tag verdrängte der bevorstehende Besuch von Papst Calabert das Thema von den Titelseiten. Calabert würde als erster Papst der Geschichte seinen Fuß auf Trinidads Boden setzen. Der Pilgerpapst aus Berufung hatte sein Wort gegeben, die Republik nicht zu besuchen, solange die Prätorianer an der Macht waren. In einer Welt, in der die Menschen immer gleichgültiger wurden oder sich alternativen Glaubenspraktiken zuwandten, weil sie so praktisch und leicht zu handhaben waren und verschiedenste Aspekte in sich vereinten, schadete die öffentlich zur Schau gestellte Religiosität von Prades und dem Henker Moliner dem Vatikan mehr, als dass sie ihm nutzte.
Der Tagespresse war zu entnehmen, Kardinal Vicco, der zum päpstlichen Gefolge gehörte, sei früher als geplant auf der Insel gelandet. Die Fotos zeigten einen Kirchenmann mit einem überirdisch strahlenden Lächeln; alle Berichte hoben seine »menschliche Wärme« hervor und wiederholten den offiziellen Tenor seiner Rede: Der Papst sei glücklich, zum ersten Mal ein Land zu besuchen, das so viel Leid ertragen habe, und er beabsichtige, seine neue Enzyklika Tempus Fugit vorzustellen.
Zu seinem überraschenden Eintreffen sagte Vicco, es handele sich um reine Routine, er wolle das Besuchsprogramm für Seine Heiligkeit erstellen und einige Protokollfragen klären. Doch im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten war von Protokoll nicht mehr die Rede. Vicco ging es allein darum, zu überprüfen, ob die erforderlichen Sicherheitsbedingungen für Calaberts Besuch gewährleistet waren.
Die Zeitung El Tiempo veröffentlichte einen ausführlichen Leitartikel zu der, wie sie sich ausdrückte, »Untätigkeit der Polizei« (auf stichhaltige Argumente verzichtete man in den Berichten für gewöhnlich). Van Upp wurde für das Verschwinden von Prades verantwortlich gemacht und auch für das Unvermögen der Polizei, ihn zu finden. Außerdem wurden in dem Artikel Zweifel an der geistigen Gesundheit des Ermittlers geäußert, man fragte sich, ob »ein Beamter mit solch einer Krankengeschichte« nicht aus dem Dienst hätte entlassen werden müssen; man vermied es allerdings tunlichst, seinen Vorgesetzten oder der Regierung die Verantwortung dafür zuzuschreiben – die Presse und ihre Verpflichtungen.
III
Eines konnte man Van Upp ganz gewiss nicht vorwerfen, und zwar, dass er untätig gewesen wäre.
Gleich an mehreren Fronten war er aktiv geworden. Nadal hatte er die Koordination der Suche nach Prades übertragen; aufgrund seiner Erfahrung schien er der geeignete Mann dafür. Sein erster Bericht galt der Untersuchung des Ortes, an dem Prades verschwunden war. Nicht eine Spur, nicht ein Sekret, nicht eine Faser waren zu finden, die nicht zu Prades oder seinem engsten Kreis gehört hätten. Hätte es noch eines weiteren Indizes dafür bedurft, dass es sich bei demjenigen, der hinter Prades’ Verschwinden steckte, und dem Mörder von Ferrer und Abellán um ein und dieselbe Person handelte, dann hatte man es jetzt schwarz auf weiß: der aseptische Tatort. In der Abteilung kursierte schon der Scherz, der Mörder agiere aus einer Luftblase heraus oder er sei schlichtweg kein menschliches Wesen.
Dumont leitete die Befragungen. Der Druck, den es dabei auszuüben galt (immer ein Stück weit über dem empfohlenen Maß), kam dem Ehrgeiz des jungen Polizisten sehr entgegen.
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