Der Spion der Zeit
sich bloß die Tatorte anzusehen, um zu erkennen, dass hier kein Spinner oder Geisteskranker am Werk war. Das Fehlen jeglicher Spuren am Tatort (Van Upp hatte noch nie eine kargere Todesbühne gesehen) war schon für sich allein ein Zeichen für planvollstes Vorgehen. Folglich waren die Resultate seiner Ermittlungen – die mit Blut geschriebene Botschaft, die ironische Verwendung der Seiten über die Sintflut – vom Mörder so beabsichtigt.
Er besaß nichts weiter als den Knochen, den ihm der Mörder selbst hingeworfen hatte. Er konnte ihn natürlich verschmähen, um sich der Manipulation zu entziehen, diesem unangenehmen Gefühl, bei einem Wettlauf im Hintertreffen zu sein, bei dem der andere den Kurs bestimmte und dessen Ziel für Van Upp im Ungewissen lag.
Aber in dem Fall stünde er mit völlig leeren Händen da.
IV
Die Fahrt zum Kloster nutzte Van Upp, um seine Gedanken zu ordnen. Die Hypothese, die ihm durch den Kopf ging, war ein wenig halsbrecherisch. Er musste sie vorsichtig anbringen, damit man nicht wieder an seinem Verstand zweifelte.
Während er den Mäandern des Weges folgte, fiel ihm auf, wie sich in dieser Art der Fortbewegung durch den äußeren Raum sein Denkprozess widerspiegelte. Doch bald darauf war Schluss mit den Gemeinsamkeiten. Die Rede war fertig – sie war immer noch gewagt, aber in ihrer Logik unanfechtbar –, er hatte jedoch Mühe, den Weg zu finden. Er verfuhr sich zweimal. Beim ersten Mal half ein Blick auf die Straßenkarte, beim zweiten Mal musste er anhalten und einen Fußgänger befragen. (Er wollte das Funkgerät im Auto nicht benutzen, um die örtliche Polizei um Hilfe zu bitten; der Polizeichef sollte von seinem kleinen Ausflug besser nichts erfahren.)
Außer der Bibel hatte er eine Grammatik des Aramäischen mit dem Titel Die Sprache der Engel aus der Bibliothek entliehen. Sie lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Es handelte sich um einen unterhaltsam und feinsinnig geschriebenen Text mit dem Imprimatur des Vatikans. Van Upp hatte sich näher mit ihm befasst, nachdem er festgestellt hatte, dass der Autor, ein Priester und Theologe namens Pedro Martin Quiroz, aus Trinidad stammte. Als ihm der Gedanke gekommen war, einen Experten hinzuzuziehen, hatte er im Episkopat angerufen (wo man seinen Anruf umgehend und zuvorkommend entgegennahm) und sich nach ihm erkundigt. Er erhielt die Auskunft, Quiroz befände sich im Ruhestand und lebte am Rande von Santa Clara, aber er würde ihn gewiss empfangen.
Als Erstes erblickte Van Upp die beiden Türme des Klosters Alta Gracia. Sie waren elegant und besaßen etwas Unfertiges. Das Kloster hatte die Anmutung einer Festung, was durchaus in der Absicht des ursprünglichen Architekten gelegen hatte. Der war während der Bauarbeiten gestorben, und sein Nachfolger hatte seinen Tod als Aufbegehren des Himmels gegen die aggressive Architektur gedeutet. Was zur Folge hatte, dass Alta Gracia nun – je nach Blickwinkel – zwei Gesichter trug. Von der Seite gesehen war es eine einzige Lobpreisung Gottes. Von vorn hingegen war es furchteinflößend wie der gewalttätige und unergründliche Gott des Alten Testaments. Fasste man beide Facetten gleichzeitig in den Blick, hatte das Gebäude eine verstörende Wirkung; der Gott, dem es geweiht war, erschien zugleich als Herr der Liebe und des Krieges.
Das Kloster war von einem Gitterzaun umgeben. Van Upp stellte den Wagen ab und läutete an der Tür. Man öffnete ihm, und er ging zwischen Grabsteinen entlang auf das Hauptgebäude zu. Auf einigen Steinen standen so frühe Jahreszahlen wie 1823, manche trugen eine lateinische Inschrift. Ihm fiel auf, dass häufig das Wort »pestis« vorkam.
Die Frau, die ihn empfing, eine Nonne, mutete ebenso schlicht an wie die Steine.
»Herr Van Upp, nicht wahr?«, sagte sie. »Ich habe Sie erwartet.«
Sie betraten eine hufeisenförmige Galerie, die einen Rosengarten umsäumte. Unten, in der Mitte des Gartens, stand ein Brunnen mit einem Cherubim, aus dessen Krug kein Wasser kam. Vor dem Brunnen kniend kämpfte der mit Overall und Strohhut bekleidete Gärtner mit Rohrzange und Absperrhähnen.
Es war schwer auszumachen, ob er sich gerade mit einer festsitzenden Schraube abmühte oder ob er versuchte, sie so fest zuzudrehen, dass nicht ein Tropfen die glatte Wasseroberfläche aufwühlte.
Als sie am Ende der Galerie angekommen waren, schaute Van Upp noch einmal zu dem Gärtner hinunter. Aus diesem Blickwinkel sah er aus wie ein anderer Mensch. Sein rechter Arm
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