Der Spion der Zeit
Van Upp gab ihm genaue Anweisung: Unter den Opfern des Prätorianerregimes solle er sich vor allem auf diejenigen konzentrieren, die religiöse Zwangsvorstellungen oder überdurchschnittlich gute Religionskenntnisse hatten. Dumonts Unbedarftheit in diesen Fragen bereitete Van Upp kein Kopfzerbrechen. Im Gegenteil, er glaubte, seine Ahnungslosigkeit würde bei den Befragten das Bedürfnis wecken, ihn zu belehren, zu berichtigen oder zu missionieren.
Van Upp war überzeugt, der Rächer (er zögerte, ihn als Serienkiller einzustufen; in Bezug auf Geschlecht, Alter, Rasse und Modus Operandi mochte er unter diese Kategorie fallen, aber sein Antrieb war nicht allein psychopathologisch zu erklären, es ging tiefer) machte den Prätorianern den Prozess und verurteilte und exekutierte sie. Er folgte dabei der am weitesten verbreiteten Lehre: der Religion, genauer gesagt, der des Alten Testaments oder des Tanach, wie der ursprüngliche hebräische Text hieß.
Van Upps größte Hürde war der Polizeichef.
Als er ihm gegenüber erwähnte, der Mörder habe bei Abellán übereinstimmend mit der Mordmethode Bibelseiten über die Sintflut verwendet, hatte er seitens des Polizeichefs nur Gelächter geerntet. Auf Einwände bei Gericht war Van Upp vorbereitet; wenn er das aufgequollene Papier als Beweis vorlegte, würde es auf jeden Fall als Indizienbeweis gewertet. Der Polizeichef hingegen reagierte weniger adäquat. Er sprach ihm jegliche Sachkenntnis ab und bezeichnete die Vermutung als schwachsinnig.
Van Upp zeigte ihm die Fotos von Ferrers Garten.
Er musste sie ihm Stück für Stück erläutern. Die Bodenstruktur, die Umgrenzung der Beete und das leuchtende Blut machten die Fotos zu einem abstrakten Bild.
Weil der Polizeichef immer noch nicht verstand, schlug Van Upp ein Exemplar des Tanach auf. (Und zwar genau jenes Exemplar aus der Stadtbibliothek, das er zusammen mit einem anderen Band ausgeliehen hatte. Obwohl sie eigentlich zum Präsenzbestand gehörten, hatte Van Upp darauf bestanden, sie mitzunehmen.)
Der Polizeichef stellte fest, dass die leuchtenden Teile des Bildes dem Satz entsprachen, auf den Van Upps langer Finger wie ein Zeigestock deutete.
Sopek dam ha’adam ha’adam damo yisapek.
»Es handelt sich um einen lapidaren Satz, den Gott nach der Sintflut zu den Menschen sagt«, erklärte Van Upp. »Übersetzt etwa: ›Wer Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.‹ Eigentlich ist er unvollständig. Wahrscheinlich haben die Schuhsohlen Ihrer Männer den Rest verwischt. Weiter müsste es heißen: ›Gott schuf also den Menschen als sein Abbild.‹ Das bedeutet, immer wenn wir einen Menschen töten, ist es, als ob wir Gott selbst töteten.«
»Aber ist das nicht ein Widerspruch?«, wollte der Polizeichef wissen. »Wenn jeder Mörder wiederum von einem anderen Menschen getötet wird …«
»Die Bibel ist voller scheinbarer Widersprüche. Heraklit sagt, der Herr, der das Orakel in Delphi besitzt, sagt nichts und birgt nichts, sondern er deutet an.«
»Wer hat was gesagt?«
»Tut nichts zur Sache! Das Zitat aus der Genesis zielt darauf ab, die Mörder zu verurteilen und diejenigen, die sie töten, von Schuld freizusprechen. Gott rechtfertigt diese Tode, die Hinrichtung der Mörder, als Wiedergutmachung für den angerichteten Schaden. Man kann mit der Interpretation sogar noch ein wenig weiter gehen. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Gott diese Tode geradezu verlangt.«
»Bücher«, sagte der Polizeichef verächtlich.
Danach hatte Van Upp leichtes Spiel. Schon bald sah der Polizeichef ein, dass es sich um einen religiösen Spinner handelte, vielleicht den Angehörigen eines Opfers der Prätorianer. Entscheidenden Ausschlag dafür gab der Papstbesuch. Der Polizeichef wollte um jeden Preis vermeiden, dass der Skandal in irgendeiner Weise mit der Anwesenheit Calaberts im Land in Verbindung gebracht wurde. Aber mehr als das diplomatische Konfliktpotential bereitete dem Polizeichef Kopfzerbrechen, dass sich eine weitere Instanz einmischen könnte. Es fehlte ihm gerade noch, dass die Kirche ihn jetzt zusätzlich unter Druck setzte und Calabert öffentlich sein Urteilsvermögen in Frage stellte.
So, wie die Dinge lagen, hatte Van Upp freie Hand, selbständig und unter größter Diskretion zu ermitteln. Denn es gab da etwas, das ihn stutzig machte und über das er weder mit Nora noch mit dem übrigen Team, noch mit Carranza, geschweige denn mit dem Polizeichef gesprochen hatte.
Man brauchte
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