Der Spion der Zeit
hing leblos herab und schwang wie ein Glockenklöppel hin und her. Der Hut, der die linke Gesichtshälfte vor der Sonne schützen sollte, gab den Blick auf eine völlig vernarbte Wange frei.
An der Treppe zum Garten blieb die Nonne stehen, bedeutete Van Upp durch eine Handbewegung, er möge hinuntergehen, und zog sich zurück. Als sie, fast schon wieder am Anfang des Hufeisens angekommen, noch einmal zurückblickte, stand Van Upp immer noch unentschlossen an derselben Stelle.
Van Upp stieg die Treppe zum Kiesweg hinab. Sein Schatten erreichte den Gärtner schneller als das Geräusch seiner Schritte; die Natur hatte seiner Gestalt eine gewisse Impertinenz auferlegt.
»Guten Tag. Ich suche Pater Martin Quiroz«, sagte er.
Der Gärtner, immer noch auf Knien, unterbrach seine Tätigkeit. Er hob den Kopf und schnüffelte wie ein Tier in die Luft. Sein rechtes Auge, bis zu dem sich die Narben hinaufzogen, war blind. Wenn die Sonne darauf schien, leuchtete es weiß.
»Wer sucht ihn?«, fragte der Gärtner.
»Van Upp. Abteilung Sechs der Polizei von Santa Clara.«
Der Gärtner drehte den Kopf und musterte ihn mit dem gesunden Auge. Van Upp ließ ihm genügend Zeit, ihn unter die Lupe zu nehmen. Schließlich stand der Mann auf. Van Upp war versucht, ihm aufzuhelfen, aber dafür hätte er seinen leblosen Arm anfassen müssen, und er wusste nicht, ob der Alte das billigte.
»Ich bin Quiroz«, sagte er.
»Ich dachte, Sie wären der Gärtner.«
»Das bin ich auch.«
Quiroz deutete auf eine Steinbank im Schatten einer Statue. Van Upp nahm den Hut ab und reichte ihm den Arm wie einem alten Mütterchen, das man über die Straße geleitet. Der Priester hakte sich unter; das Gehen fiel ihm schwer.
»Pater …«, sagte Van Upp und half ihm, Platz zu nehmen.
»Pedro. Nennen Sie mich Pedro. Ich bin zwar immer noch Priester, aber es ist lange her, dass ich Menschen auf einen guten Weg gebracht habe. An kompliziertere Lebewesen als an Pflanzen wage ich mich nicht mehr heran. Doch auch so erlebt man manche Überraschung. Ich lerne Dinge von ihnen, die ich aus dem Buch der Bücher nicht gelernt habe. Dass sie von innen nach außen verdorren, zum Beispiel, so wie ich.«
Van Upp setzte sich an seine linke Seite. Sein Fuß stieß an eine Holzkiste. Darin befanden sich die Gärtnerutensilien und ein abgegriffenes Taschenbuch mit dem Titel Der Spion der Zeit.
»Ein Krimi?«
Der Alte zuckte mit den Schultern.
»Ich hatte immer schon ein Faible für Krimis. Obwohl ich meistens nicht bis zum Ende komme. Ich finde den Mörder immer viel zu schnell.«
»Der Titel spielt auf ein Werk von Shakespeare an.«
»Ja, Macbeth. Die Verse sind auf den ersten Seiten abgedruckt. Eine bloße Laune. Der Autor mag Macbeth, weiter nichts.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so etwas lesen.«
»Viel mehr darf ich nicht mehr lesen. Auf Anraten des Arztes. Man hat mir Bibelabstinenz verordnet.«
Van Upp sah sich um. Außer ihnen schien niemand da zu sein.
»Ich habe dieses Kloster seit Jahren nicht verlassen«, sagte der Alte und lachte gackernd. »Tageszeitungen interessieren mich nicht. Meine Wahrnehmung ist, wie Sie sicherlich bemerkt haben, eingeschränkt. Doch Ihr Besuch hat mir ein Gefühl zurückgebracht: Ich hatte schon fast vergessen, wie viel Freude eine Überraschung bereiten kann.«
Van Upp bot ihm eine Zigarette an, doch der Priester lehnte dankend ab.
»Ich vermute, selbst in Ihrer Einsiedelei haben Sie von den Prätorianern gehört«, sagte er und zündete sich selbst eine an.
»Eins von vielen Dingen, von denen ich lieber nicht erfahren hätte.«
»Jemand ist dabei, sie zu töten.«
»Gott ist gerecht«, sagte Quiroz ohne Zögern. »Zumindest manchmal.«
»Ich gehe davon aus, dass der Mörder Ihre Auffassung teilt.«
»Sie dürfen das nicht wörtlich nehmen. Wenn Sie mich fragen, was ich tatsächlich denke, würde ich antworten, Gott hat sich vor vielen, vielen Jahrhunderten aus dem Staub gemacht.«
»Ich würde Ihnen gern meine Vermutung darlegen.«
»Verzeihung!«, sagte Quiroz und gackerte noch lauter. »Wie Sie sehen, habe ich mich so an das Alleinsein gewöhnt …«
»Ich glaube«, hob Van Upp an, »dass der Mörder über immense Bibelkenntnisse verfügt. Ich glaube, er benutzt sie, um die Gerechtigkeit dieser Tode zu betonen, so wie Sie vorhin. Und ich glaube auch, dass seiner Art zu töten ein Verhaltensmuster zugrunde liegt, eine Art Methode. Es wäre für mich von unschätzbarem Wert, sie entschlüsseln zu
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