Der Spion der Zeit
an die Frau mit den elf Fingern: seinen Arzt und die Krankenschwester, die ihm Beruhigungsmittel injizierte.
Die Dysfunktion zeigte sich darin, dass sein Unterscheidungsvermögen in Mitleidenschaft gezogen war. Er vermochte die Bilder, die er sah – das Licht, der weiße Mann, die Krankenschwester –, nicht von denen zu trennen, die seine Phantasie hervorbrachte. (Sein Vater, eine Pistole, Feuer.) Und er konnte dem, was er sah, keine Bedeutung mehr zuschreiben: Die Augen und der Mund der Krankenschwester waren für ihn dasselbe wie die drei Löcher einer Steckdose. Das perspektivische Sehen war ihm abhandengekommen, er verwechselte Vorder- und Hintergrund. Es war ihm unmöglich, einen gesprochenen Satz von einer knarrenden Tür zu unterscheiden, alles empfand er als Lärm.
Wenn er die Augen schloss, sah er ein endloses Gebilde mit regelmäßigen Formen vor sich, das er später als Schachbrett oder Schaltplan oder die Skizze eines Labyrinths identifizierte. (Dieses Gefühl von etwas Mechanischem in seinem Körper würde ihn nie mehr verlassen: der Lebensfunke, der laufende Motor, der fachkundige oder unsachgemäße Umgang mit der Steuerung.) Von unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen übermannt, ging er monatelang auf alles und jeden los, auch auf sich selbst; er wusste nicht, wo er aufhörte und wo die anderen anfingen.
Allmählich nahm er eine Reihe von Dingen wahr, die es ihm erlaubten, sich seine Welt wieder zusammenzubauen. Die stetige Abfolge von Tag und Nacht. Worte wie aufgesammelte Perlen einer zerrissenen Kette. Die Vertikalität der Welt, gegen die er nicht länger aufbegehrte. Dass man über die Hände an dieser Welt teilhaben konnte: Er lernte, den Mechanismus von Aufziehspielzeugen zu reparieren, später auch, wie man sie auseinandernahm und neu zusammensetzte; erst da kam die Sprache zurück.
Eine Zeitlang sprach er nur in Versform. Er rezitierte Shakespeare. Diese Texte schienen das Einzige zu sein, was sich über den Rubikon seiner Amnesie hinweggerettet hatte.
Es fiel ihm schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, er habe ein früheres Leben gehabt, an das er sich nicht erinnern konnte. Die Ärzte hatten zunächst abgewartet und es ihm dann schonend beigebracht; es half, wenn sie ihm sagten, dass viele der Bilder, die sein Geist hervorbrachte, aus der Hirnregion stammten, die man der Vergangenheit zuordnete.
Wie ein Schiffbrüchiger an den rettenden Ast klammerte er sich an die Informationen, die man ihm zur Verfügung stellte. Er hieß Van Upp. Er war Ermittler.
Als man der Ansicht war, es gehe keine Gefahr mehr von ihm aus, begleitete man ihn zu einem Ausflug in seine Wohnung. Er durfte seine Kleider anziehen, sich in seinen Sessel setzen, in seinem Bett liegen. Er stöberte in seinen Büchern herum. Man gestattete ihm, ein paar davon mit in die Klinik zu nehmen. (Es gab eine makellose Shakespeare-Werkausgabe und abgegriffene Einzelausgaben jedes Textes, vollgeschrieben mit Anmerkungen.)
Er hatte die Informationen, die ihm die Ärzte gaben, nie in Frage gestellt. Er hätte an ihren Absichten zweifeln und glauben können, dass sie ihm einzureden versuchten, er sei ein anderer, jemand, den sie erfunden hatten wie eine Romanfigur. Doch ihm war klar, für ihn selbst würde es keinerlei Unterschied bedeuten, beides wäre für ihn gleichermaßen beschwerlich.
Man entließ ihn unter der Auflage, regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen in der Klinik vorstellig zu werden. Die ersten Tage verbrachte er in einer Absteige, wo er Ermittlungen anstellte. (Er ging Archive durch, schrieb Briefe, führte Telefonate; er nahm keinen persönlichen Kontakt zu Leuten auf, die ihn kannten.) Am dritten Tag bestieg er einen Zug ins Delta, fuhr dort zwei Stunden mit dem Schiff umher und ging auf einer Insel an Land, deren Baumalleen es ihm angetan hatten. Er durchwanderte sie vom einen Ende bis zum andern. Dann erkundigte er sich nach einem Haus, das er mieten konnte, und bekam eins ohne Strom und ohne Gas.
Als einziges Gepäck hatte er ein paar Kleidungsstücke, einige wenige Bücher (die Shakespeare-Werkausgabe, die Bibel) und die Informationen mitgenommen, die er in den ersten Tagen in Freiheit eingeholt hatte. Das Haus stand auf Pfählen, damit es bei Flut nicht fortgespült würde. Es besaß ein Dach und einen Lehmofen, und es gab darin ein paar Werkzeuge und eine Angelrute.
Die ersten Wochen widmete er sich der Lektüre. Er las Zeitungsausschnitte und versandte Briefe mit seiner neuen Anschrift; die im Hotel
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