Der Spion der Zeit
können, denn dann wüsste ich, was er als Nächstes vorhat. Ein weiterer Prätorianer, Exgeneral Prades, ist verschwunden.«
Van Upp erläuterte die Umstände der beiden Todesfälle.
Quiroz hörte ihm schweigend zu und nickte. Als Van Upp geendet hatte, nahm er den Hut vom Kopf und fächelte sich Luft zu.
»Die Botschaft ist eindeutig«, sagte er.
Van Upp hielt das für eine ironische Spitze. Doch bald wurde ihm klar, dass der Priester seine Worte ernst gemeint hatte.
»Die Mordmethoden verweisen auf Schlüsselmomente in den biblischen Erzählungen«, sagte Quiroz. »Schlüsselmomente deshalb, weil Gott eine neue Erkenntnis über den Menschen, über seine Beziehung zu ihm und über seine eigene Natur gewinnt. Durch diese Erkenntnis verändert sich Gott. Und trifft Entscheidungen.«
»Die Sintflut zum Beispiel«, sagte Van Upp. »Das ist ganz eindeutig eine Strafe Gottes. Aber Ferrers Tod?«
»Liegt genauso auf der Hand«, sagte Quiroz. »Er verweist auf Kains Brudermord an Abel.«
»Aber Abel wurde doch durch Schläge mit einem Eselskiefer getötet. Ferrer hingegen …«
»Sie irren. Das mit dem Eselskiefer ist ein Ammenmärchen. Im Volk beliebt, aber es entbehrt jeglicher Grundlage. Wenn Sie die Stelle nachlesen, werden Sie feststellen, dass es keinerlei Hinweis auf irgendwelche Knochen oder Tiere gibt, abgesehen von den Schafen, die Abel hütete. Es wird nicht gesagt, wie Kain den Mord begangen hat.«
Quiroz holte tief Luft und rezitierte die Stelle auswendig: »›Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?‹«
»Aha. Keiner weiß also, wie Abel genau zu Tode gekommen ist. Keiner weiß, wie Ferrer zu Tode gekommen ist. Wonach soll ich also suchen? Welches Schicksal erwartet Prades? Was ist der nächste Schritt im Erkenntnisprozess Gottes?«
»Schwer zu sagen. Es gibt da viele Möglichkeiten«, sagte Quiroz. »Gott ist wankelmütig. Er erschafft den Menschen, dann bereut er es, und dann bereut er, dass er es bereut hat …«
»Ist Gott nicht unveränderlich? Weiß er nicht alles im Voraus?«
»Vollkommenheit ist nicht gleich Unveränderlichkeit. Vollkommenheit ist Entwicklung. Die ständige Weiterentwicklung zu etwas Höherem. Gott wusste nicht, dass Töten etwas Böses ist, bis Kain das Seine dazu tat. Wenn Sie nachlesen, werden Sie feststellen, dass bis dahin keinerlei Gewaltausbrüche des Menschen erwähnt werden. Erst als Kain tötete … Erst als …«
Quiroz’ gesunder Arm zitterte, und er stützte ihn auf der Bank ab, als brauchte er ihn, um sein Gleichgewicht wiederzufinden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Van Upp.
»Ja, ja. Es ist nur … Ich habe … an Ihren Mörder gedacht. Er versteht sich auf das große Drama. Wissen Sie, woran Gott das wesenhaft Böse des Mordens erkennt? Wie er feststellt, dass diese Art von Tod ihn abstößt? Gott hat Kain nicht ›gesehen‹, als das mit Abel geschah; er war nicht dort; er hat es nicht vorhergesehen. Aber etwas hat ihn gewarnt. Etwas, das ihn drängte, zu Kain zu eilen und ihn nach seinem Bruder zu fragen. Und noch bevor er die Einzelheiten erfuhr, wusste er, dass etwas Böses geschehen war. Das sagte ihm sein … Körper. Er spürte es auf der Haut. Er hörte es«, sagte Quiroz und umklammerte Van Upps Hand.
Wieder holte er tief Luft. »›Was hast du getan?‹«, sagte er.
»›Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.‹«
V
Er brauchte eine Weile, bis er merkte, dass er wach war.
Es war vollkommen finster. Er blinzelte. Nur so konnte er sich vergewissern, dass seine Augen offen waren. Er ließ die Lider noch einmal flattern. Er dachte: Das sind die einzigen Muskeln, über die ich noch Kontrolle habe.
Wo war er? Ihm war heiß. Die Luft war feucht und stickig. Vielleicht befand er sich im Bauch eines Wals. Nein, da war etwas Hartes. Metallisches. Er lag auf einer Metallplatte. Das glaubte er zumindest. In seiner Benommenheit fiel es ihm schwer, zwischen oben und unten, vorne und hinten zu unterscheiden.
Hin und wieder hörte er ein Quietschen. Wieder musste er an Metall denken. Eine leerstehende Fabrik?
Ein menschlicher Kopf, der in einem mechanischen Organismus steckte. Ein verrückter Gedanke, aber genauso fühlte es sich an. Er bewegte die Zunge (all seine Bewegungen waren ein Sich-Vortasten; er bewegte
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