Der Spion der Zeit
das, was sich an der Stelle befand, wo er seine Zunge wähnte), doch er fand seine Lippen nicht. Es kam ihm vor, als würde seine Zunge über eine ungewohnte, raue Oberfläche fahren.
Plötzlich verspürte er Durst.
Er suchte Zuflucht in seinem Gedächtnis, bei dem, was er beim Überlebenstraining gelesen hatte. Ihm fielen nur Geschichten ein. Sechs Japaner in einem Schlauchboot, im Jahr 1946, im Süden des Golfs von Tonkin: Das Meersalz hatte sie konserviert, sechs perfekte Mumien, die Augen waren von den Möwen ausgehackt oder mit der Körperflüssigkeit aufgesogen worden. Oder jener Indio in der Salzwüste, der, geblendet von der gleißenden Sonne und all dem Weiß, fünf Tage durchgehalten hatte und am sechsten eine kleine Festung erreichte. Er weigerte sich zu erklären, wie er eine Hand verloren hatte, die Wunde war durch das Salz verätzt worden. Er weigerte sich auch zu erklären, was mit ihr geschehen war. Noch Wochen später versteckte er sich, führte sie an die Lippen und saugte an ihr wie an einer trockenen Orange.
Jetzt erinnerte er sich an die Autofahrt. Er erinnerte sich an die Stimme, die davon sprach, dass jedes Handeln Konsequenzen hat, er erinnerte sich an das Nichts und am Ende an seinen Namen: Prades.
Als würde er einer Beschwörung folgen, hob und senkte sich Prades’ Arm in der Dunkelheit; er schien ein Eigenleben zu haben, er war wie eine Feder, die mit einem zu großen Gewicht kämpfte. Da war etwas Flüssiges. Prades dachte an den Indio und führte seine Hand an den Mund. Sie war feucht. Süß. Er trank. Es schmeckte köstlich.
Dieses Wohlgefühl gab ihm den Mut, sich einzugestehen, was er bis zu dem Moment ausgeblendet hatte. Sein Körper war zerstört. Und damit war auch das Gefühl von Einheit verschwunden: Manche Körperteile waren gänzlich taub, andere gehorchten nicht mal mehr den einfachsten Befehlen.
Er war heilfroh, dass er sich in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
VI
Das Waisenhaus war ein trostloses Gebäude. Es wimmelte von Kindern in blauen Kitteln, die schweigend umherliefen, als wären das Schweigen und die ständige Bewegung Teil einer kollektiven Buße.
Benet wartete am Empfang. Man hatte ihm gesagt, ein Priester würde sich um ihn kümmern. Das gefiel ihm gar nicht. Priester, Politiker, Intellektuelle – alles Intriganten. Er misstraute all jenen, die ihren Körper vernachlässigten; er wertete das als Arroganz, als wollten sie deutlich machen, dass sie – im Gegensatz zu ihm – einer unvergänglichen Macht dienten.
Den Unterlagen nach war Van Upp bis zu seinem zwölften Lebensjahr dort untergebracht gewesen. Inzwischen hatte er sogar Mitleid mit dem Bastard. Aufgewachsen im Waisenhaus, in der Psychiatrie gebüßt. Die Institutionen waren nicht gerade sanft mit Van Upp umgesprungen.
»Sergeant?«
Die Hand, die der Priester ihm reichte, fühlte sich glitschig an, und Benet hasste diese Schwäche. Anstatt ihm die eigene Überlegenheit vor Augen zu führen, verursachte sie Ekel. Er musste sich beherrschen, den kalten Schweiß, der sich bei der Berührung mit der Fischhand auf seine Finger gelegt hatte, nicht an der Kleidung abzureiben.
»Ich bin Pater L. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Er trottete hinter dem Priester her wie eins der Kinder im Kittel.
»Was möchten Sie über Van Upp wissen?«, fragte der Priester beim Gehen.
»Eine Routineermittlung«, sagte Benet.
»Gehört es jetzt zur Routine, gegen Polizisten zu ermitteln, die mit Fällen von großem öffentlichen Aufsehen betraut sind?«
Benet gab keine Antwort, er war nicht dazu verpflichtet. Sein Schweigen war durch das Gesetz geschützt. Ich habe ein Recht auf einen Anwalt, sagte er sich. Der Satz war ihm bestens vertraut, ihm selbst aber noch nie über die Lippen gekommen. Es überraschte ihn nicht sonderlich, immerhin gehörte es zu seinem Job, wie ein Verbrecher zu denken.
»Hier entlang«, sagte der Priester und öffnete eine Tür.
Es war ein Raum voller Bücher. Eine Art Archiv: Sämtliche Bände hatten dieselbe Größe und trugen eine Nummer (das betreffende Jahr in Goldlettern) auf dem Rücken.
»Da sind sie«, sagte der Priester und ging auf eins der Regale zu. »Die Daten über die ersten Lebensjahre von Van Upp. Impfungen. Krankheiten. Gewicht. Größe. Viel mehr werden Sie in den Registern nicht finden. Wenn Sie Informationen zu seiner schulischen Entwicklung suchen, die stehen in dem Regal da drüben. Wussten Sie, dass Van Upp und ich Klassenkameraden waren? Wenn Sie noch
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