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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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einen prophetischen Ton für sein düsteres Panorama gewählt. Er zeichnete den Menschen der Gegenwart als entfremdetes Wesen, das die Arme für den Wohlstandsregen öffnet, den der Himmel des Materiellen ihm verheißt, und sich im Gegenzug verpflichtet, weder den Glauben noch sich selbst zu hinterfragen. »Man hat uns gekauft«, sagte Calabert, »Wohlstand gegen Schweigen.«
    Für Calabert galt die Schlacht schon fast als verloren. Er erlaubte sich sogar, einen Exkommunisten wie Orwell zu zitieren. Der Papst glaubte, dass eine Welt wie die in 1984 beschriebene längst Realität war, nur in einer weit schlimmeren Variante: Denn niemand schien sich der eigentlichen Lage bewusst zu sein. Der Mensch lebte nicht mehr in Abhängigkeit vom Menschen, sondern vom Markt. Und die Regierungen agierten wie die Polizisten dieses Marktes, sie wachten über seine Interessen und bestraften all diejenigen, die ihm zuwiderhandelten. Er sprach über die Technik, die versklavte statt befreite. (»Es wird immer einfacher, ohne den Kontakt zu anderen auszukommen«, sagte Calabert beziehungsweise sein Redenschreiber oder sein Pressesprecher, »und in unserer Einsamkeit leistet uns nur noch das Geräusch der Maschinen Gesellschaft.«) An dieser Stelle käme dann die Psychoanalyse ins Spiel, die versuchte, all die Ängste herunterzuspielen und kontrollierbar zu machen, die durch das Gefühl des Scheiterns hervorgerufen würden. Und die Pseudoreligionen, die das Nirwana verhießen, das man auch ohne Veränderung der Außenwelt erreichen könne, indem man allein für sein eigenes »inneres Gleichgewicht« sorge.
    Nora fand die Analyse an sich nicht schlecht, doch Calabert war für sie unglaubwürdig. Seine Reaktion erschien ihr unzeitgemäß, er gebärdete sich wie ein verdrängter Liebhaber. Die Rolle der Kirche bei der derzeitigen Entwicklung ließ er außen vor. Er hatte doch in den letzten Jahrzehnten tatenlos dabei zugesehen, wie die Kompetenzen der Kirche zunehmend beschnitten wurden und der Katholizismus zum Kult einer verschworenen Gemeinschaft geworden war, der jenseits der Kirchenmauern keine Bedeutung mehr hatte. Zwischen diesem verwässerten Glauben und den Modereligionen klaffte gar kein so tiefer Abgrund, es war bloß eine Frage der Tradition.
    Wie zu erwarten, führte Calabert alles darauf zurück, dass der Mensch sich von Gott abgewandt habe. Nora fragte sich, ob es nicht treffender lauten müsste, Gott habe sich vom Menschen abgewandt. Wo war Gott, als Trinidad in die Hände der Prätorianer fiel? Nora verstand sich als Agnostikerin, aber wenn sie über die Möglichkeit der Existenz Gottes nachdachte, drängte sich ihr als Erstes die Frage auf, was für ein Gott das war, der schweigend die Ernte des Schreckens duldete, in dem sich der Mensch als wahrer Meister gebärdet.
    Wenn es Gott wirklich gab, sollte ihn niemand verehren.
    Man sollte ihn negieren. Oder tadeln.
    VIII
    Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Jemand verlangte am Eingang nach Van Upp. Er sagte, Kardinal Vicco, der Sekretär Seiner Heiligkeit, schicke ihn. Nora fragte die Telefonistin, ob es sich um einen Priester handle. Sie erwiderte, es handle sich um einen Herrn mit einem sehr hübschen Dienstausweis.
    Der kleine Mann, der sich mit dem Namen Dufresne vorstellte, trug eine viel zu große Mütze auf dem Kopf (blau mit schwarzem Schild; er sah aus wie ein Chauffeur) und lehmverschmierte Schuhe. Laut Ausweis war er beim Büro zum Erhalt des Glaubens angestellt. Der Ausweis war in der Tat auffällig. Nora schaute auf Dufresnes Füße und überlegte, ob der Erhalt der Schuhe wohl in die Kompetenz eines anderen Büros fiel.
    Als sie Dufresne mitteilte, Van Upp sei dienstlich unterwegs, blickte er verdrossen drein wie ein kleiner Junge, dem man den Luftballon weggenommen hat. Er kramte in den Taschen seines Jacketts und zog eine Visitenkarte nach der anderen heraus. Er bat sie, Van Upp auszurichten, der Kardinal wolle ihn sprechen und er solle ihn unter der Nummer anrufen, die er jeden Moment finden würde. Es sei dringend. Kardinal Vicco würde bald abreisen. Sie möge etwas Geduld haben, er habe die Nummer gleich zur Hand.
    Er überreichte ihr die Visitenkarte des Episkopats.
    Nora bedankte sich mit den Worten, sie werde die Karte an Van Upp weitergeben, und verabschiedete den Gast.
    Dufresne stand vor ihrem Schreibtisch und rührte sich nicht vom Fleck.
    Sie fragte ihn, ob sie noch etwas für ihn tun könne.
    »Kennen Sie ihn?«, fragte

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