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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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etwas brauchen, finden Sie mich …«
    »Warten Sie«, sagt Benet. »Bleiben Sie bitte.«
    Benet ging auf das Regal mit den Schulakten zu. Er nahm den ersten Band und schlug ihn auf einer beliebigen Seite auf. Dritte Klasse. Nein, das war die falsche. Er musste zurückblättern. Zur Klasse davor. Da. Lehrer: Miguel A. Urquiza. Die Anwesenheitsliste, für jeden einzelnen Tag. Gallino. Quiroga. Van Upp. Er fuhr mit dem Finger weiter nach oben. L, Daniel.
    »Was war Van Upp für ein Kind?«, fragte Benet.
    »Ein stiller Junge. Gutes Benehmen. Ein ausgezeichneter Schüler. Immer den besten Notendurchschnitt«, sagte der Priester.
    Benet griff nach einem anderen Band, ein anderer Jahrgang. Lehrer: Miguel A. Urquiza.
    »Ich glaube, in dem Jahr ist er regelrecht in die Höhe geschossen«, sagte der Priester. »Ein Riese. Schon bald war er einen Kopf größer als Don Miguel.«
    »Don Miguel?«
    »Miguel Urquiza. Unser Lehrer.«
    Benet blätterte die nächsten Seiten um, ohne richtig hinzuschauen. Noch mehr Namen. Noch mehr Spalten. Noch mehr Anmerkungen. Er hasste diese Art von Ermittlung: Man verlor sich in einem Dickicht von überflüssigen Informationen, in der Hoffnung auf irgendeinen Hinweis, der einen weiterbrachte.
    »Wo kann ich diesen Mann finden? Den Lehrer. Urquiza«, sagte Benet und klappte das Buch demonstrativ zu: Diese Etappe der Ermittlung war für ihn abgeschlossen.
    »Ich fürchte, da werden Sie Pech haben.«
    »Ist er tot?«
    »Er lebt seit ein paar Jahren im Ausland. Ein toller Typ. Er ist sehr jung Priester geworden, danach hat er die Soutane abgelegt, eine Zeitlang in Marokko gelebt, sich an irgendeinem Krieg beteiligt, und anschließend ist er nach Santa Clara zurückgekommen und Anwalt geworden. Eigentlich wollte er in den Polizeidienst eintreten, aber wegen einer Verwundung hat man ihn nicht genommen. Er war nicht gerade das, was man sich unter einem typischen Lehrer vorstellt. Er rauchte im Unterricht wie ein Schlot, fluchte … Er gab uns immer zu verstehen, dass er Leute auf dem Gewissen hatte, auch wenn er jetzt hier war und sich kreideverschmiert mit uns herumschlug. Wir alle träumen als Erwachsene von einem Lehrer, den wir gefürchtet haben, und ich träume immer noch von Don Miguel, der mit einem Säbel in der Hand auf mich zukommt, um mich zu tadeln.
    Aber seine Geschichten haben uns fasziniert. Van Upp hat großes Glück gehabt. Ihn sollten Sie fragen.«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
    »Wenn jemand weiß, wo Don Miguel sich aufhält, dann ist es Van Upp.«
    Benet sah den Priester an, und der Argwohn stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    »Bevor Don Miguel das Waisenhaus verließ, hat er alles Nötige in die Wege geleitet«, sagte der Priester. »Er hat Van Upp hier herausgeholt, weil er ihn auf eine andere Schule bringen wollte. Eine bessere. Das war schließlich sein gutes Recht.«
    »Ich verstehe nicht!«
    »Don Miguel hat ihn adoptiert. Verstehen Sie jetzt? Sie sind gemeinsam gegangen. Den Gerichten dieses Landes nach ist Miguel Angel Urquiza offiziell Van Upps Vater.«
    VII
    Van Upp hatte darauf bestanden, dass Nora im Büro blieb (irgendjemand musste die Stellung halten), und zähneknirschend hatte sie eingewilligt. Langsam bekam sie den Eindruck, Van Upp ließe sie nicht am Geschehen teilhaben, er halte absichtlich Informationen zurück.
    Den Morgen hatte sie auf der Suche nach religiös motivierten Verbrechen im Archiv verbracht. Wenn es um die Schilderung des Tathergangs ging, waren die Berichte zwar sehr detailfreudig, doch wenig fundiert. Nora überkam bei der Lektüre das Gefühl, sie hörte ihren Vater reden.
    Am Nachmittag las sie Tempus Fugit, die neue Enzyklika von Papst Calabert. Nicht aus Frömmigkeit, sondern weil sie den Verdacht hegte, dass der Mörder der Prätorianer unter einem religiösen Wahn litt. (War es ein berechtigter Verdacht ihrerseits oder nur eine Projektion des Verdachts, dem – wie Nora glaubte – Van Upp in seiner Ermittlung folgte?) Vielleicht fand sich darin ein Schlüssel für die Obsessionen des Mörders und seine Denkweise. Vielleicht hatte Calaberts glühende Rede in einem Geist, der alles allzu wörtlich nahm, sonderbare Blüten hervorgetrieben. In einigen Passagen kam Calaberts Aufruf, »sich zu erheben und den bedrohten Glauben zu verteidigen«, schon fast einer Hetzrede gleich.
    Der erste Teil von Tempus Fugit fasste die Situation des Glaubens in der Gegenwart in den Blick. Calabert (sein Redenschreiber?, sein Pressesprecher?) hatte

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