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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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brauchte ihn niemand vorzuwarnen, als sie kurz vor dem Ziel waren. Ob es an der verminderten Geschwindigkeit des Autos lag oder an der Spannung in der Luft, Van Upp war jedenfalls hellwach, als der Wagen den Steinbogen zum Landsitz passierte.
    Selbst im blassrosa Schimmer des anbrechenden Morgens mutete die Landschaft wild an. Büsche, hoch wie Pferde. Von Efeu überwucherte Steinmale. Bäume mit ungleichen Kronen, ein Heer von Riesen mit wulstigen Köpfen. Die Gärtner hatten sie seit 1921, als das Republikanische Heer das Gebäude in Brand gesetzt hatte, nicht mehr angerührt, dennoch war der Weg frei. Der Hausmeister und seine Frau benutzten ihn häufig mit ihrem klapprigen Lieferwagen, wenn sie die Eier von ihrem Bauernhof ausfuhren.
    Nadal wartete am Wegrand.
    »Wo ist Carranza?«, fragte Van Upp, kaum dass man ihm die Beamten vor Ort vorgestellt hatte. Nadal erwiderte, er sei noch nicht eingetroffen. Auf Van Upps ansonsten stets ungerührtem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Verärgerung, und er bestand darauf, dass niemand etwas anfasste, bis der Gerichtsmediziner zugegen war. Einige murrten (vielleicht aus Ungeduld, die Kriminaltechniker warteten bereits seit Stunden darauf, endlich in Aktion treten zu können), aber Van Upp behelligten sie nicht weiter; der ließ sich von Nadal auf den neuesten Stand bringen.
    Sie gingen zu dem Wassertank. Er war nachträglich gebaut worden, um die Handwerkerbrigaden mit Wasser zu versorgen, die das Haus wieder aufbauen sollten. Das Unterfangen verlief im Sande, als der letzten Generation der Familie Losada, die von Glücksspiel, Wahn und am Ende vom Krieg verschlungen wurde, das Geld ausging. Nora glaubte sich zu entsinnen, dass jemand einen Roman über die Geschichte der Familie geschrieben hatte. Sie fragte sich, ob der Autor die Ruine und den Betontank gesehen hatte, der nicht für die Ewigkeit gedacht war und so gar nicht zur Eleganz passte, die das Haus selbst in seinem zerfallenen Zustand noch ausstrahlte. Vielleicht wirkte der Tank deshalb älter als das Gebäude. Das Kalkgrau und die kreisrunde Form hatten etwas Atavistisches.
    Van Upp stieg über die schmale Metalltreppe nach unten. Der Tank verfügte über eine Luke, durch die man hineinklettern konnte, um ihn zu säubern. Obwohl es langsam hell wurde, war es im Innern des Tanks dunkel wie in einer Katakombe.
    »Geben Sie acht mit der Treppe!«, sagte Nadal.
    Die Stufen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Hin und wieder schaute er nach oben und sah Noras Gesicht im Oval des Bullauges, das immer kleiner wurde; auch sie schaute hinab, vermochte aber nichts zu erkennen.
    Der Gestank war entsetzlich: Wundbrand. Er kannte ihn von seinem Aufenthalt in der psychiatrischen Anstalt, wo er mehr als einen Patienten gesehen hatte, der im Fieberdelirium dahinfaulte. (Die Medikamentenversorgung war immer prekär gewesen, aber während des Krieges gingen die Antibiotika vollständig aus.)
    »Hier entlang«, sagte eine dunkle Stimme.
    Eine Taschenlampe wies ihm den Weg. Van Upp schaltete seine eigene an und ging weiter. Zwei Schritte. Er hörte, wie die Panzer der Käfer unter seinen Schuhen knackten.
    »Bleiben Sie da stehen. Ich bin Doktor R, der ortsansässige Gerichtsmediziner. Vorsicht, nichts anfassen«, sagte der Mann durch das Taschentuch, das er sich vors Gesicht hielt. »Nur ein einfacher Augenschein. Sehen Sie hin.«
    Er leuchtete Prades’ Gesicht an. Kein Zweifel, es handelte sich um ihn. Er war aufgedunsen, hatte glasige Augen. Um seinen Mund drängten sich die Insekten, dort fanden sich Spuren von getrocknetem Blut; es sah aus, als habe ihm jemand ungeschickt die Lippen übermalt.
    »Die Brüche sind eine Folge des Sturzes. Ein Arm wurde unter dem Körper eingeklemmt«, sagte R und leuchtete den Torso an. »Vielleicht auch ein paar gebrochene Rippen. Aber der Wundbrand ist hier unten entstanden.«
    Der Lichtstrahl fuhr über Prades’ Körper und hielt auf Höhe der Beine inne. Er hatte einen offenen Bruch unterhalb des Knies. Die Ränder der Wunde waren schwarz verfärbt, und munter krabbelten die Insekten über den Knochen hinaus und hinein.
    »Es kommen mehrere mögliche Todesursachen in Betracht«, sagte der Gerichtsmediziner.
    Auch Van Upp hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht; er hatte das Gefühl, der Gestank würde mit jeder Sekunde unerträglicher. Er wollte näher herantreten und sich Prades’ Kleidung anschauen.
    »Halt! Keinen Schritt weiter!«, rief der Gerichtsmediziner und blendete ihn mit der

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