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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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Taschenlampe.
    Dann leuchtete er auf den Boden zu Van Upps Füßen und die sich schlängelnde Spur, auf die er beinahe getreten wäre.
    »Ich würde mal vermuten, dass das hier die Todesursache ist«, sagte er. »Nach seinem Sturz ist jemand heruntergekommen und hat ihm mit einem scharfen Gegenstand den Bauch aufgeschlitzt. Ich habe von Fällen während des Krieges gehört, die fast eine Woche in diesem Zustand überlebt haben. Auch er hätte noch länger leben können, wenn er nicht den Saft seiner eigenen Eingeweide getrunken hätte.«
    XI
    Dienstag, kurz nach Mittag. Die bevorzugte Zeit des Todes.
    Es heißt, Christus’ Seele habe zu dieser Stunde seinen Körper verlassen, der Himmel von Jerusalem habe sich verfinstert und der Vorhang im Tempel sei in zwei Stücke zerrissen. Auch Herkules soll um diese Zeit das durch den Zentaur vergiftete Hemd angezogen und vor lauter Qual die Gnade des Todes erfleht haben. Und es soll die ideale Tageszeit sein, um Verräter zu erschießen; das Fehlen des Schattens erhöht die Todesangst.
    Um diese Zeit bügelte Señora Antonia gerade eines der beiden weißen Hemden ihres Mannes. Señora Antonia war eine andächtige Radiohörerin. Sie hatte sich etwas einfallen lassen, damit sie nie auf die Gesellschaft des Radios verzichten musste: Aus einer Küchenschürze fertigte sie eine Art Rucksack, so dass sie den Apparat während ihrer unzähligen Verrichtungen im Haus überallhin mitnehmen konnte (er wog einiges, ja, aber aus Señora Antonias Mund kamen keine Klagen, wer hätte sie auch hören sollen?).
    Señora Antonia hatte keinen bevorzugten Sender. Ob Musik kam oder nicht, war ihr gleich. Hauptsache, das Radio lief. Wenn die Radiostimme ununterbrochen auf sie einredete, dachte Señora Antonia an nichts und erledigte ihre Hausarbeit. Sie wusste nichts über Zen oder andere Konzentrationstechniken, doch sie hatte bemerkt, dass ihr die Arbeit viel leichter von der Hand ging, sobald das Radio seinen Zauber entfaltete.
    Zur Lieblingsstunde des Todes hörte Señora Antonia noch gebannter zu. Wie in jedem Arbeiterviertel war um diese Zeit niemand zu Hause außer den Frauen wie Señora Antonia. Die Männer waren bei der Arbeit, und die Kinder hingen noch in der Schule fest. Dann hörten Frauen wie Señora Antonia Radio. In Innenhöfen, auf Fensterbrettern und Balkonen, überall konnte ein aufmerksames Ohr mindestens ein Dutzend Apparate schnattern hören.
    Wenn jemand Señora Antonia gefragt hätte, was sie an jenem Nachmittag gehört hatte, wäre ihm ihre Unsicherheit aufgefallen. Musik vielleicht: was von Bing Crosby oder Manzanero. Sie wusste noch, dass man versucht habe, ihr Waschmittel, Suppen und Bügeleisen zu verkaufen, die besser und moderner waren als die ihren. Vielleicht erinnerte sie sich auch, dass der Tod von Prades bestätigt wurde, möge ihn der Teufel holen.
    Als sie den Schrei hörte, schaltete sie das Radio ab. Es war ein bestialischer, undefinierbarer Schrei. Was drückte er aus: Schmerz, Zorn, Kummer, Freude? Einen Moment lang verharrte sie reglos und wartete, dass er sich wiederhole. Sie merkte, dass sie um ein Haar das Hemd verbrannt hätte, und fluchte. Dann hörte sie Donnergeräusche. Nein, es war kein Donner: Es war der Mann von oben. Der Seemann. Seine Quadratlatschen. Er machte sich fertig, um aus dem Haus zu gehen. Kurz darauf hörte sie seine Tritte auf der Marmortreppe und dann nichts mehr.
    Señora Antonia fragte sich, ob sie sich nicht auch solche Quadratlatschen zulegen sollte, wie ihr geheimnisvoller Nachbar sie besaß. Sie waren nicht schön, aber in den vom Regen überschwemmten Straßen bestimmt nützlich.
    XII
    »Van Upp ist erledigt. Wenn dem Henker Moliner etwas zu stößt …«
    »Da wäre ich mir nicht so sicher. Niemand, der bei klarem Verstand ist, kann ihn für Prades’ Tod verantwortlich machen. Schließlich hat er die Ermittlungen gerade erst aufgenommen und Prades auf jeglichen Polizeischutz verzichtet.«
    »Bei klarem Verstand? Welch sonderbare Wortwahl.«
    »Es wäre ungerecht, Van Upp verantwortlich zu machen für …«
    »Ungerecht? Wer spricht hier von Gerechtigkeit? Wir reden von der öffentlichen Meinung. Da ist ein Durst, der dringend gestillt werden will. Und in der Wüste fragt sich niemand, ob das Wasser der Quelle auch sauber ist.«
    »Was möchten Sie trinken?«
    »Guten Abend, Don Ciro. Für mich dasselbe wie immer. Und für den Herrn …«
    »Einen Schnaps.«
    Nadal hatte seine Vorbehalte und die Übermüdung beiseite

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