Der Spion der Zeit
beabsichtigte, auf dem Seeweg anzureisen. Er kam aus einem Nachbarland. Die Presse stürzte sich gleich darauf und bauschte es als symbolische Geste auf: Der Papst begebe sich auf die Spuren der europäischen Entdecker des sechzehnten Jahrhunderts. Niemand kam auf den Gedanken, dass das Schiff nach wie vor die praktischste Reisemöglichkeit zwischen den beiden Ländern war; bei einer Flugreise hätte das ganze Drumherum dreimal länger gedauert als der eigentliche Flug.
Die liberale Zeitung El Tiempo deutete an, des Papstes Entscheidung für den Seeweg verweise auf seinen Hang zum Obskurantismus. »Ein Papst, der in ein Land kommt, das gerade Opfer eines Völkermordes war, um über Gott zu sprechen, ist entweder unverfroren oder naiv. Calabert sagt, er mache diesen Besuch, weil es ihm ein Bedürfnis sei, Trost zu spenden, Wunden zu heilen, für Eintracht zu sorgen. Er sollte lieber mit uns über die Bedeutung des letzten Jahrzehnts sprechen. Dass all das geschehen konnte, heißt, dass Gott nicht existiert – das würde den Völkermord erklärbar machen –, oder aber er ist böse. Eine andere Alternative gibt es nicht«, hieß es in der Kolumne.
Die populärste Zeitung Trinidads, El Trabajador, konterte sofort. Sie veröffentlichte eine Kolumne, in der man zu beweisen versuchte, dass Calaberts Pontifikat geradezu die Apotheose des rationalen Denkens sei. Auffallend war, dass die Frage über die Natur Gottes, wie sie in EI Tiempo gestellt wurde, zugunsten der These vernachlässigt wurde, dass der Papst wohl kein Vertrauen in Flugzeuge habe.
Es wurde eigens eine Skizze eingefügt, die zeigte, dass der Seeweg zwischen den beiden Ländern fast eine gerade Linie beschrieb (ihre Krümmung entsprach nur der der Erdoberfläche) und folglich die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Punkten darstellte; beim Flug könne man durch das Auf und Ab und die damit verbundenen Kurven nicht von einer geraden Linie sprechen. In seiner Absurdität hatte der Streit schon fast wieder etwas Poetisches.
(In Trinidad gibt es ein dazu passendes Sprichwort, das den philosophischen Müßiggang verteidigt: »Will man zur Wahrheit gelangen, muss man die Arbeit niederlegen und die Zeit vergessen.«)
Calabert traf an einem Freitagmittag ein. Die örtliche Kirche hatte Sitzreihen im Halbkreis um das Dock herum aufbauen lassen, an dem das Schiff namens Pirandello anlegen würde. Tausende von Menschen warteten seit Sonnenaufgang; die Mehrzahl der Sitzplätze war für Familien von Rang und Namen aus der Schar der einheimischen Gläubigen reserviert. Für die Crème de la Crème gab es am selben Abend einen Empfang in der Nuntiatur, zu dem bereits zwei Monate zuvor mit einem prunkvollen Schreiben geladen worden war.
Die erlesene Gästeliste war eins der Themen gewesen, die Kardinal Vicco mit dem Minister besprochen hatte. Vicco hatte geäußert, der Papst sei nur in dem einen Punkt kategorisch gewesen, den Prätorianern demonstrativ keine Einladungen zukommen zu lassen. Calabert wollte kein Zeichen setzen, das man als Unterstützung oder Aufmerksamkeit deuten konnte. (»Seine Heiligkeit ist der Auffassung, es seien keine weiteren Gesten des Erbarmens erforderlich als diejenigen, die ihnen bereits von den Gerichten gewährt wurden«, sagte Vicco bei der Gelegenheit mit einem seligen Lächeln, das sich auf ein anderes Thema zu beziehen schien.)
Die Pirandello machte pünktlich fest, und die Gläubigen schwenkten die im Sonnenlicht leuchtenden weiß-gelben Fähnchen.
Nachdem der Papst den Boden geküsst hatte, war es auch schon vorbei mit der Anmut, für die der Schiffsbauch gebürgt hatte, und alles Weitere geriet zum Hindernislauf. Calabert grüßte den Präsidenten – den er um fast zwei Köpfe überragte, die Bischofsmütze nicht eingerechnet – mit der behandschuhten Hand, während Tausende von Hälsen sich reckten, um einen Blick auf das päpstliche Gesicht zu erhaschen, das durch ein halbes Dutzend Sonnenschirme vor der Sonneneinstrahlung geschützt wurde. (Jeder wusste um Calaberts Hautkrankheit; manch einer schenkte sogar dem Gerücht Glauben, es stecke etwas Schlimmeres dahinter als eine einfache Allergie.) Es gab einen kurzen Segen, in dem er über die Gefahren des Relativismus sprach. »Das große Übel der heutigen Zeit, besteht darin«, wie er es ausdrückte, »einen Gott nach unseren Bedürfnissen schaffen zu wollen.« Dann bestieg er eine Limousine, so weiß wie sein Gewand, und entfernte sich auf den Straßen des
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