Der Spion der Zeit
Upp war verwirrt. Er war noch nie nachts im Chinesenviertel gewesen, noch nie betrunken. In jedem Haus glaubte er, das von Mei zu erkennen. Er befürchtete schon, er müsse sie einzeln abklappern und die Bewohner aufwecken, bis er das richtige gefunden hätte. Sofern sie nicht schon von den Schreien erwachten, die ganz aus der Nähe kamen. Zwei oder drei schrille Stimmen. Bei den Chinesen wusste man nie, ob es sich um einen harmlosen Streit handelte oder ob sie sich jeden Moment an die Gurgel gehen würden. Er berührte die Pistole in seiner Tasche und fühlte sich gleich besser.
Die Nachricht von Carranzas Tod hatte ihn am frühen Morgen erreicht, als er gerade zum Polizeipräsidium aufbrechen wollte. Er hatte sie einsilbig entgegengenommen; seine Antwort fiel so knapp aus, dass der Anrufer ihn fragte, ob er ihn überhaupt verstanden habe.
Carranza war zweihundert Meter vom Präsidium entfernt auf den Felsen am Strand gefunden worden. Die Rettungsleute mussten mit den Kormoranen und Möwen um die Wette kämpfen, die die Leiche verteidigten, als handle es sich um einen der Ihren.
Van Upp fragte nur nach der Todesursache. Augenscheinlich Selbstmord, hieß es.
Er wollte erst die Autopsie abwarten, bevor er die Angehörigen benachrichtigte. Auch Carranza war im Wasser umgekommen, darin hatte er etwas mit Abellán gemein: Er war weiß, aufgedunsen. Van Upp eilte aus dem Sektionsraum, wo D und seine Assistenten zaudernd am Rande des Seziertischs standen. Es hatte etwas Obszönes, das Skalpell gegen einen Mann zu erheben, der es so oft mit sicherer Hand geführt hatte, und die Mediziner schienen sich dieser Aufgabe nur zögerlich widmen zu wollen.
Draußen fragte Van Upp Nora, ob Lucas Carranza noch bei seiner Mutter lebte. Sie wurde blass, dann stieg Wut in ihr auf.
»Wollen Sie etwa sagen, Sie wüssten es nicht?«, fragte sie.
»Was weiß ich nicht?«
»War er nicht Ihr Freund?«
»Natürlich.«
»Was für eine Art von Freund?«, fragte Nora.
Sie schwiegen beschämt.
Schließlich sagte Nora mit erstickter Stimme: »Lucas Carranza ist tot. Er wurde von den Prätorianern entführt. Seine Leiche ist nie wieder aufgetaucht.«
Niemand hatte etwas dagegen, dass Van Upp sich für den Rest des Tages frei nahm. Ob die anderen glaubten, dass er trauerte, oder ob sie dachten, er würde verschwinden, damit keiner merkte, dass er es nicht tat, war ihm egal.
Er betrat die erstbeste Bar und betrank sich. Es wurde dunkel.
Irgendwann verlangte der Barkeeper, er solle erst einmal seine Zeche bezahlen, wenn er weiter trinken wolle. Er kam dem Wunsch nach, und der Brandy floss wieder.
Später war er irgendwie im Chinesenviertel gelandet. Ziemlich angetrunken, aber nicht so sehr, dass er die Pistole im Handschuhfach liegengelassen hätte.
In jedem Haus glaubte er, das von Mei zu erkennen.
Nach ein paar Runden hatte er den entscheidenden Hinweis gefunden. Neben dem Hauseingang lag der Bär im Matsch, den er Chi-Chia geschenkt hatte. Er versuchte ihn aufzuziehen. Der Rost, der den Mechanismus blockierte, stammte nicht allein vom Regen dieser Nacht.
Van Upp stürzte in die Hütte. (Vielleicht konnte er angesichts seines Zustands nicht anders.) Eingeschüchtert von den winzigen Räumlichkeiten, bewegte er sich linkisch. Mei schlief auf einer Matte. Einen Meter entfernt lag eine weitere, die wohl dem Jungen gehörte; sie war leer.
Mei wachte auf, noch bevor Van Upp auf die Knie gesunken war. (Vielleicht nicht ganz freiwillig.) Aber sie schrie nicht. Van Upp nahm mit feuchten Händen ihr Gesicht und küsste sie. Sie sträubte sich, fasste seine Handgelenke und versuchte sie wegzudrücken; alles ohne ein Wort. Sie schrie auch nicht, als die eiskalte Hand sich unter ihr Nachthemd schob. Ihr Körper wehrte sich, hatte aber gegen Van Upp, den Riesen, keine Chance. Wortlos drang er in sie ein.
Er kam gerade wieder zu Atem, da sah er Chi-Chia im Türrahmen stehen. Wie für Mei schien das Schweigen auch ihm oberstes Gebot zu sein. Er versuchte sich vorzustellen, was der Junge sah: ein Riese im Umhang (der gewaltige Mantel mit auf dem Boden ausgebreiteten Schößen), der auf seiner Mutter lag und sie aussaugte: ein Vampir. Irgendwie war er zu seinem Auto gelangt. Er blieb darin sitzen, bis seine Augen von der Sonne schmerzten und er, auf der Suche nach Schatten, gezwungen war, von dort zu verschwinden.
Dritter Teil
If God is God, he’s not good.
If God is good, he’s not God.
Archibald MacLeish, J. B.
I
Papst Calabert
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