Der Spion der Zeit
geschlagen.
»Sie erinnern mich an jemanden, den ich sehr geliebt habe«, war Van Upps Antwort. »Er sprach mit derselben Begeisterung von Gott. Er vermittelte mir das Gefühl, dass Gott nah war, mich berührte, über meine Schulter schaute, meine Hand führte …«
»Nun, ich sehe ihn so.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sie messen meinen Spekulationen zu viel Bedeutung bei. Befürchten Sie nicht, dass man Sie hier nicht mehr rauslassen könnte?«
Van Upp sagte, es gäbe Schlimmeres.
»Wie ist der Gott, von dem die Texte sprechen? Ich meine die Art, wie er sich präsentiert. Ja, seine Präsenz. Genau! Sie ist physisch! Gott ist da. Er spricht. Er streitet. Er zeigt sich in den Dingen: im Dornbusch, im Feuer und Rauch eines Vulkans, im Wasser, das sich teilt, in den Plagen … Er begräbt Moses mit seinen eigenen Händen, mit denen er einst Adam formte. Er isst! Abraham bereitet ihm ein Festmahl zu, in Mamre, bevor er nach Sodom aufbricht, und Gott erscheint ihm bei den Eichen. Gott wandelte unter uns. Gott führte Heere an und beging so viele Fehler, dass es nur eines rechtschaffenen Mannes, Hiobs, bedurfte, um ihn zum Schweigen zu bringen und zu verbannen. Wenn Sie auf die Abfolge im Tanach achten, die anders ist als die der Bibel, werden Sie feststellen, dass Gott nach der Erniedrigung durch Hiob nicht wieder in Person auftaucht; er zeigt sich nur noch über Propheten. Er zieht sich sozusagen zurück. Wie die Garbo! Fern von den Blicken der Welt. Er lehnt jedes Angebot ab, auf die Bühne zurückzukehren. Er flieht, wenn Sie so wollen.«
»Gott flieht«, hatte Van Upp wiederholt.
»Warum nicht?«, sagte der Priester. »Es ist eine überzeugende Erklärung.«
Van Upp fragte ihn, wovor Gott fliehe.
»Gott flieht vor …«, hob Quiroz ungestüm an. »Das ist ein heikles Thema. Höchst spekulativ. Und an diesem Ort nicht angebracht. Aber ich will Ihnen sagen, dass das Bild des fliehenden Gottes auf überzeugende Weise sein Schweigen erklärt. Wer flüchtet, kann sich bloß auf seinen eigenen Weg konzentrieren. Er lebt in der Gegenwart. Und er schaut nur nach vorn, dorthin, wohin er sich flüchtet, und nie zurück oder zur Seite. Gott ist mit seiner Flucht beschäftigt, damit, verborgen zu bleiben; das erklärt das Schweigen, die Nichteinmischung, die unumgängliche Einsamkeit. Sie werden sagen, das sind kindische Argumente, und vielleicht haben Sie recht, aber sie spenden mir Trost. Ich empfinde dadurch sogar Mitleid für diesen Bastard.«
»Sie glauben also an einen verborgenen Gott«, sagte Van Upp. »Einen Gott, der genau in diesem Moment ganz in unserer Nähe sein kann, hinter diesem Baum oder in dieser Statue.«
»Gott kann jede Gestalt annehmen, aber er hat eine ursprüngliche Gestalt«, sagte der Priester. »In dieser Hinsicht ist die Bibel eindeutig. Der Mensch wurde nach Gottes Ebenbild geschaffen. Er ist ein theomorphes Geschöpf; er ähnelt Gott wie ein Ei dem anderen. So sehr, dass es für das Auge des Laien unmöglich ist, zwischen Schöpfer und Geschöpf zu unterscheiden. Der Laie muss sich fragen: Wer von diesen beiden ist es? Wer aus dieser Gruppe? Aus dieser Menge? Und dieser Zweifel sollte uns zur anfänglichen Frage zurückführen, zu jenem Rätsel, das der Vater aller Rätsel ist: Wer ist Er? Wer? Für uns gilt es als selbstverständlich, dass ein so mächtiges Wesen Gott sein muss. Aber das ist nicht die einzige Möglichkeit. Der in den Klang seiner Stimme verliebte Demiurg, die Donnergestalt, die Moses und Abraham und Isaak und Jakob aufsuchte, muss nicht der wahre Gott sein. Das sagt Er selbst, es scheint zumindest so. Ehyeh-Asher-Ehyeh. Aber wenn er nicht der ist, der er zu sein behauptet? Wenn es sich um jemand anderen handelt? Wenn er in Wahrheit …?«
Quiroz’ Hand umklammerte Van Upps Arm. Oben auf der Galerie stand Schwester Solange und winkte. Quiroz erhob sich und machte sich auf den Weg, den Hut ließ er auf der Bank zurück. Schwester Solange blieb unverändert an ihrem Platz, ein Lächeln grenzenloser Güte im Gesicht, das Van Upp (jetzt erinnerte er sich gut, er sah sie fast vor sich) unheimlich war.
Der Priester hatte kaum zwei Schritte gemacht, da drehte er sich unter Mühen noch einmal um und blickte den Ermittler an. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als wollte er ihm etwas sagen, und wenn es auch nur ein Abschiedsgruß war. Aber der stille Ruf der Nonne von oben obsiegte.
Quiroz’ Füße schlurften über die Erde. In einer höheren Stimmlage antworteten die
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