Der Spion der Zeit
Zwar war er sich nicht vollständig sicher (sie war dunkel und befand sich hinter dem Kreuz), aber die Nische schien eine größere Tiefe zu haben, als er vermutet hatte.
In der Zeit zwischen dem Aufstieg und der endgültigen Entdeckung konnte Pater Barreda zwei Dinge festhalten: Das Kreuz schwankte wirklich (im Profil war die Bewegung deutlicher zu erkennen), und die Christusfigur war weit größer, als sie von unten aussah. Ein Christus, sagte er sich, entspricht zwei Barredas.
Da hörte er es. Ein Klagen.
Hatte er richtig gehört? Das Kreuz sprach?
Er fragte sich, warum der Gedanke ihn erschreckte. Das Wunder müsste ihn mit Freude erfüllen, nicht mit Schrecken. Ein Wunder war schließlich kein Albtraum.
Hätte ihn die Höhe nicht schwindeln gemacht, er wäre hinuntergesprungen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter rückwärts in die Nische zu kriechen, wie ein Krebs.
Auu.
Da war es. Das Klagen. Grauenvoll.
Barreda war verzweifelt. Was wollte die Stimme ihm sagen? War Christus ins Leben zurückgekehrt, um das Grauen zu verkünden? Was würde geschehen, wenn er die Nachricht nicht verstünde? Wenn Gott mit ihm sprach und er ihn nicht richtig verstand? Ihn falsch auslegte? Wenn er den Willen des Himmels schlecht übersetzte?
Auu, Hilfe.
Es bat um Hilfe. Das Kreuz bat ihn um Hilfe.
Als er merkte, dass nicht das Holz mit ihm sprach, war es bereits zu spät. Pater Barreda starb. Sein Herz versagte. Im Licht der Kirchenfenster kam es ihm so vor, als ob das Kreuz davon schwebte. Es flog. Welch Ironie: Er starb, aber seine Augen sahen immer besser, sie gewöhnten sich an die Dunkelheit der Nische. Und so bemerkte er, dass sich auf der anderen Seite des Kreuzes noch jemand befand. Nicht Christus, sondern jemand, der auf die Rückseite des Kreuzes genagelt war. Jemand, der noch lebte und blutete, der um Hilfe bat und gleichzeitig an die Pforte der Hölle klopfte.
Pater Barreda hauchte sein Leben aus. Er starb um 20.15 Uhr.
Der Henker Moliner überlebte ihn um ein paar Minuten. Er hatte noch Zeit, sich ein weiteres Mal vor Schmerz zu krümmen und einen letzten Schrei auszustoßen, wie ein Tier im Schlachthof.
Vierter Teil
Surely some revelation is at hand.
William Butler Yeats,
The Second Coming
I
Moliners Tod weckte eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Reaktionen, denen nur eines gemein war: die Erleichterung. Sowohl diejenigen, die seine Ermordung feierten, als auch die, die sie verurteilten (einige aus humanitären Gründen, andere aus politischen Erwägungen), glaubten, dass nun endlich alles vorbei sei. Moliner war der letzte der Prätorianer. Sein Mörder dürfte ob der vollendeten Tat höchste Befriedigung empfunden haben, wenn auch nur für kurze Zeit. (Er war mit blutigen Händen überrascht und von einer Polizistin niedergestreckt worden, von der Ermittlerin Nora Duarte.)
Es war vollbracht. Der Kreis hatte sich geschlossen.
Auch die Nachricht zog ihre Kreise und reichte bis weit hinein in andere Bereiche der Wirklichkeit. Der in Trinidad weilende Papst hatte bei größtem Zulauf seine Messe gefeiert, während Moliner – in einer Kirche! – ermordet wurde.
Dazu äußerte sich Seine Heiligkeit schon bald: Über die Ermordung hätte er hinweggehen können, nicht aber über die Tatsache, dass ein Gotteshaus zum Tatort eines Verbrechens geworden war.
Und selbstverständlich enthielt er sich jeglichen Kommentars über die Inszenierungsform dieses Todes.
Man hatte Moliner gekreuzigt.
Der symbolische Gehalt der Exekution war nicht zu übersehen. Auffällig war jedoch, dass er vollkommen unterschiedlich gedeutet wurde. Einige fanden, die Botschaft sei einfach: Aus der Tatsache, dass Christus an der einen Seite des Kreuzes hing und Moliner an der anderen, könne man ableiten, dass es sich um die beiden Seiten einer Medaille handelte: das leibhaftige Gute und das leibhaftige Böse. Der eine rettete die Menschen, der andere zog sie in die Hölle; Christ und Antichrist. Subtilere Geister betonten, dass es sich um ein und dieselbe Medaille handelte, das heißt zwei Aspekte derselben Sache, und das sollte wohl ein deutlicher Hinweis auf die Kollaboration der Kirche von Trinidad mit dem Prätorianerregime sein.
Andere spielten, im Rausch der Begeisterung über die Anwesenheit des Papstes auf der Insel, die Identität des Opfers herunter und deuteten das Ganze als eine atheistische Verschwörung. Handelte es sich nicht um den Versuch, einen Ort zu beflecken, der per Definition
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