Der Spion der Zeit
Riesenschritten durch das Gedärm. Mit ein wenig Glück würde er noch rechtzeitig da sein und etwas vom Papst mitbekommen. Sofern die Feier nicht durch den Regen ins Wasser gefallen war. Es gewitterte heftig: Blitze, Donner, prasselnder Regen. Und wieder Donner.
In der Sakristei gab er sich geschlagen. Wie sollte er zu Calabert gelangen? Taxi war keines zu bekommen, und einen Schirm hatte er nicht dabei. Also machte er sich daran, den Text für den kommenden Tag durchzugehen (er wollte vermeiden, dass ihm ein solches Debakel noch einmal passierte; dies war die schlechteste Predigt seines Lebens gewesen), und schlief mit dem Buch in der Hand ein. Es donnerte weiter, aber man vernahm inzwischen nur mehr ein einlullendes Grollen.
Als er aufwachte, fiel Barreda ein, dass er in seiner Eile und für jedermann sichtbar den Kelch auf dem Tabernakel hatte stehen lassen. Heute war nicht sein Tag, so viel stand fest.
Er kehrte in die Kirche zurück. Vor dem Tabernakel stockte ihm der Atem. Der Marmor war voller Flecken. Jemand hatte literweise Farbe darüber geschüttet. Sofort dachte er an Vandalismus. Dann sah er noch mehr Flecken, dunkle Tropfen, Pfützen am Boden. Das Herz zog sich in seiner Brust zusammen und verharrte in diesem Zustand wie eine zur Faust geballte Hand. Er trat einen Schritt nach vorn, um das Gleichgewicht wiederzufinden. In der Tat: Es handelte sich um rote Farbe.
Es kostete Barreda übermenschliche Anstrengung, nach oben zu schauen. Irgendetwas sagte ihm, er müsse es tun (die Farbe schien auf das Tabernakel herabzuregnen; an irgendeiner Stelle, die er nicht sehen konnte, hörte er es tropfen), und warnte ihn zugleich vor den Folgen seiner Neugier. Die Anhänger von Israels Gott wissen, dass es eine Gnade sein kann, bestimmte Dinge nicht anzusehen. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament geißeln den menschlichen Blick: Alles, was man mit den Augen des Körpers sieht, mahnen sie, sei trügerisch und führe nur zu Lüsternheit und Sünde, oder man erstarre zur Salzsäule wie Lots Frau.
Doch Barreda entschied sich hinzusehen.
Zwischen der unermesslichen Höhe der Decke und dem geschändeten Tabernakel befand sich nur ein Kreuz. Ein riesiges Kreuz mit gleich langen Armen. An dem Kreuz hing ein leidender, schmerzgebeugter Christus, der ins Jenseits blickte, so wie Barreda zu ihm.
Vom Kreuz troff Blut.
Plötzlich hörte er ein Klopfen an der Tür. Barreda dachte, die Vandalen wollten erneut in die Kirche einfallen und diesmal alles dem Erdboden gleichmachen. Vielleicht waren es auch Journalisten, die sich das Wunder des blutenden Kreuzes ansehen wollten. Ein Wunder, dessen erster Zeuge er war. Er stellte sich vor, wie er auf den Titelseiten stand. Wie er vom Papst empfangen wurde.
Dann spürte er ein Kribbeln im rechten Arm, und der Arm wurde taub. Angesichts eines Wunders zu sterben war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Ein Wunder kann seine Wirkung nur entfalten, wenn jemand da ist, der es bezeugen kann. Er jedoch löste sich auf. Er fragte sich, ob das seine Strafe war: dass er das Privileg hatte, einem Wunder beizuwohnen, und es für sich behalten musste.
Da fiel ihm etwas auf. Es waren nicht die angenagelten Hände von Christus, die bluteten, nicht die durch einen Nagel mit diamantenförmigem Kopf zusammengehaltenen Füße. Es war das Längsholz, von dem das Blut auf den Marmor tropfte, plopp, plopp.
Weiterhin donnerten Schläge an die Tür. Er würde gleich aufmachen. Erst einmal musste er überleben.
Jetzt konnte er die Hand bewegen. Sie öffnen. Wieder schließen. Ohne Schmerz. Sie gehorchte ihm wieder. Man schenkte ihm sein Leben, damit er Zeugnis von dem Wunder ablegen konnte, von dem blutenden Kreuz, dem Kreuz, das zeigt, wie sehr Gott für all seine Geschöpfe leidet, dem Kreuz, das (wenn man genau hinschaute, bestand kein Zweifel) kaum merklich vor und zurück schaukelte.
Pater Barreda suchte nach Stellen, die ihm als Tritt dienen konnten, um nach oben zu klettern. Es war niemand in der Kathedrale. Wer sollte ihn tadeln? Er wollte hinauf zu dem Kreuz, damit er mehr und besser sehen konnte (in dem Moment dachte er nicht mehr daran: Alles, was man mit den Augen des Körpers sieht, ist trügerisch). Er wollte das Phänomen genauer unter die Lupe nehmen, bevor er den Journalisten die Tür öffnete. Er stieg hinauf. Einen Fuß auf die Kante, den anderen auf die Schnecke der Säule. Die letzte Stufe war das Tabernakeldach.
Er saß auf dem Boden der Nische, in der das Kreuz stand.
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