Der Spion der Zeit
hatte sie eine Reihe von Briefen erhalten, die Sie ihr an ihre Adresse in Chicago gesandt hatten, diese aber weggeworfen, ohne sie zu beantworten. Doch zuvor hatte sie sich die Anschrift notiert, die auf der Rückseite des Umschlags stand. Eine Anschrift in Santa Clara.«
Der Kardinal schwieg, und Stille erfüllte den Raum.
»Ich brauche Zeit«, sagte Van Upp schließlich.
»So viel Sie wollen«, erwiderte Vicco väterlich.
Van Upp stand langsam auf.
»Ich kann Sie unter Schutz stellen lassen«, sagte der Kardinal. »Ab sofort. Das wäre das Vernünftigste. Ich habe Männer hier …«
»Was ich zu tun habe, muss ich allein erledigen«, sagte Van Upp. Er ging zur Tür.
»Soll ich dem Heiligen Vater etwas ausrichten? In Ihrem Namen, meine ich.«
Van Upp blieb stehen. Er dachte einen Augenblick nach. »Sagen Sie ihm, er möge für mich beten.«
Dufresne geleitete ihn zum Ausgang.
XII
Pater Barreda hatte man beigebracht, Gottesfurcht setze das Verdrängen jeglichen Begehrens voraus. Ein Problem, das sich ihm nicht stellte. Dem Ruf des Fleisches zu widerstehen, war der leichteste Teil seines Priesteramtes gewesen; die Stimme seines Fleisches war schwach.
Doch an jenem Abend begehrte Barreda etwas. Es war ein bescheidenes, beinahe schickliches Begehren, eins, wie es zu Barreda passte. Hätte er die Wahl gehabt, er hätte die Abendmesse ausfallen lassen, zu der er eingeteilt war, und wäre zum Papst gegangen, um den sich gerade alle Gläubigen scharten. Doch sein Vorgesetzter war damit nicht einverstanden gewesen. »Was, wenn nur ein einziges altes Mütterchen sich in die Kathedrale schleppt und feststellt, dass man ihm die Kommunion verweigert?«, hatte der Bischof gesagt. Es war eine riesige Verantwortung; eine Verantwortung, die größer war als Barreda. Er hatte sie dankbar angenommen.
Und er fand sich zur entsprechenden Stunde in der Sakristei ein, um die Messe vorzubereiten. Das musste er diesmal allein tun, denn selbst die Messdiener befanden sich auf der Plaza de la Victoria und warteten auf den Gottesdienst, den der Heilige Vater halten würde – der erste lateinamerikanische Papst der Geschichte und der erste, der Trinidad besuchte: der charismatische Papst Calabert.
Die Vorbereitungen waren zwar nicht kompliziert (den Hostienteller und den Wein zum Altar bringen; den Kelch aus dem Tabernakel holen und sich vergewissern, dass genügend Hostien für die Weihung vorhanden waren), doch sie lenkten Barreda von einer ihm unverzichtbaren Aufgabe ab: die Lektüre der Bibelstelle des Tages, die er in seiner Predigt kommentieren wollte. Gewöhnlich kam er eine Viertelstunde vor der Messe in die Sakristei, um das Messgewand in der liturgischen Tagesfarbe anzulegen, den Text noch einmal durchzulesen und kurz zu beten; sonst fühlte er sich hilflos. An dem Abend hatte er die Stelle nur rasch noch einmal überfliegen können, dann war er zur Kirche geeilt, umziehen wollte er sich, sobald Hostienteller und Kelch an ihrem Platz standen.
Der Gang, der die Sakristei vom Altar trennte, war dunkel und feucht, eine lange aufsteigende Spirale. Die Messdiener nannten ihn »das Gedärm«.
Und in ebendiesem Gedärm befand er sich, als er den Donner hörte. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Er bekreuzigte sich. Es war ein Reflex; eine ungeschriebene Regel des Katechismus besagt, dass Gott durch den Donner spricht.
Ein erster Blick in die Kirche bestätigte seine Vermutungen. Sie war fast leer. Wer würde sich auch an einem Gewitterabend ohne besonderen Grund hinauswagen? Vielleicht für Papst Calabert. In den Reihen saßen zwei oder drei alte Frauen, über deren Seelenheil der Bischof wachte. Und der General, wie an jedem Tag in den letzten Monaten. Der Prätorianer. (Barreda fragte sich, ob die Fürsorge des Bischofs nicht eher Moliner als den alten Mütterchen gegolten hatte.)
Der Priester überlegte, wie schön es wäre, wenn er die Messe wegen mangelnden Publikums absagen könnte, wie eine Theatervorstellung. Er wartete noch fünf Minuten. Zwei weitere ältere Damen trafen ein. Resigniert begann Barreda mit der Messe. Sie ging zügig und ohne Zwischenfälle vonstatten. Ihm war nur aufgefallen, dass Moliner mitten in der Messe zwar aufgestanden – er dachte, er verlasse die Kirche, und fühlte sich noch unfähiger –, aber kurz darauf an seinen Platz zurückgekehrt war. In einem bestimmten Alter, sagte er sich, meldet der Körper dringlichere Bedürfnisse an als den Glauben.
Am Ende eilte er mit
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