Der Spion der Zeit
unbefleckt war? Warf dieser Tod nicht Schatten auf Calaberts Besuch, wurden dadurch nicht die päpstlichen Vorhaben behindert? (Der Abschiedsgottesdienst sollte in der Kathedrale stattfinden, die jetzt unter der Obhut von Untersuchungsbeamten lag, die Tag und Nacht arbeiteten.) Und der größte Affront: Was war diese Gleichstellung vom Tode Christi und Moliners anderes als ein Sakrileg, ein Angriff auf denjenigen, der in jeder Hinsicht Vollkommenheit verkörperte?
Ein Argument, dessen sich auch Moliners Anhänger bemächtigten. Sein Tod am Kreuz unterstreiche die Opferrolle des Prätorianergenerals. Er war auf dem Altar der Politik geopfert worden, erst von den Ländern im Norden im Stich gelassen (die ihm bei seiner Machtübernahme den Rücken gestärkt hatten), dann von den Mächtigen Trinidads (die damals die Rückkehr der Ordnung und die Möglichkeit zur Gewinnmaximierung ohne staatliche Kontrolle begrüßt hatten) und am Ende von den Medien. Moliner war das Opferlamm. Sein christlicher Glaube lasse es völlig abwegig erscheinen, dass er sich in diesen Tod gefügt hatte, ohne sich seiner Rolle bewusst zu sein: Er büßte für die Sünden anderer. Er hätte mit dem Leben davonkommen können, doch er hatte sein Schicksal angenommen. Hatte denn nicht in der Zeitung gestanden, dass er trotz der Gefahr auf dem Messbesuch bestanden hatte?
Ein politischer Kommentator, der während des Regimes großes Ansehen genossen und später eine Anstellung bei einem Privatsender gefunden hatte, ging sogar so weit nahezulegen, man möge Moliners Leichnam im Auge behalten.
»Wir alle wissen ja«, sagte er, »was am dritten Tag geschah.«
II
Calaberts Abschied war kurz. Vor dem Flugzeug, das ihn nach Rom zurückbrachte, gab es noch einen päpstlichen Segen, gegen dessen rasche Abwicklung niemand etwas einzuwenden hatte. Ein jeder verspürte das dringende Bedürfnis, so schnell wie möglich in sein Alltagsleben zurückzukehren, die Feierlichkeiten, Verbrechen und Kümmernisse hinter sich zu lassen, die Trinidad in Atem gehalten hatten.
Wenige Stunden nach der Abreise ließ die Polizei von Santa Clara Félix Rey Pantoja, den Seemann, den man für den Mörder der Prätorianer gehalten und verhaftet hatte, aus Mangel an Beweisen frei.
Die Nachricht erschien zwar auf der ersten Seite, aber kleingedruckt in einer Ecke. Im Mittelpunkt der Schlagzeilen stand ein Skandal um Kabinettsmitglieder, die Waffen an ein Nachbarland verkauft haben sollten. Eigentlich hätte der Fall wie eine Bombe einschlagen müssen, doch die Journalisten berichteten eher beiläufig darüber; auch darin schien sich die allgemeine Erleichterung über die Rückkehr in die Normalität auszudrücken. Solange sich alles auf Korruption, politische Grabenkämpfe und weitere Kniefalle vor dem internationalen Großkapital beschränkte, konnte Trinidad weiter die kühle Meeresbrise genießen, Ciro Chomón sein Bier ausschenken, die Post Briefe zustellen und Señora Antonia mit dem Radio auf dem Rücken ihre Hemden bügeln.
An dem Abend führte der ehemalige Hauptmann Jorge Di Tulio seine Familie zum Essen aus.
Während des Prätorianerregimes hatte Di Tulio als Verantwortlicher für das Gefangenenlager El Foso traurige Berühmtheit erlangt. Die Besonderheit dieses Lagers bestand in seiner geographischen Lage in der Nähe des Zentrums von Santa Clara (es befand sich zwanzig Minuten vom Regierungssitz und wenige Blocks von einer noblen Wohngegend entfernt), der Vielzahl an »Internierten«, die durch die Baracken geschleust wurden, und im diskriminierenden Vorgehen von Di Tulio. Juden hatten keine Chance in El Foso: Sie wurden gefoltert, getötet und ins Meer geworfen – so mechanisch und leidenschaftslos, als handelte es sich um eine Fließbandtätigkeit.
Christen hingegen bekamen eine zweite Chance. Di Tulio trat mit einer Bibel auf sie zu, die er wie ein Orakel konsultierte. Von der (stets sehr freien) Auslegung der zufällig ausgewählten Stelle hing es ab, ob sie sofort getötet, ihre Folter ad infinitum verlängert oder ob sie an die sogenannten Rehabilitationsstellen weitergereicht wurden, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten, die von Putzen bis hin zu Geheimdiensttätigkeiten reichte.
Di Tulio speiste in Gesellschaft seiner Frau und seiner beiden Kinder, als wenige Meter von seinem Tisch entfernt ein Streit entbrannte. Der hinkende Mann, der sich mit einem Kellner angelegt hatte, schien sich aus dem Gefecht zurückziehen zu wollen, kam dann aber auf Di Tulio zu
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