Der Spion und der Analytiker
bis in ihr Hotel gefolgt und hatte dort ein Zimmer genommen. Er hatte keine Eile, nach Bern zurückzukommen. Gerade an jenem Tag hatte er eine Mission beendet und war nun mindestens eine Woche lang vollkommen frei. Immer, wenn eine Arbeit erledigt war, verschwand er eine Zeitlang von der Bildfläche und war dann selbst für Casparius unerreichbar. Eine Gewohnheit, die er schon nach seinen ersten Aufträgen angenommen hatte. Der Alte hatte sich inzwischen damit abgefunden und beschränkte sich nur noch darauf, diese Tage, an denen sein Pflegesohn unauffindbar blieb, »die Sabbatwoche meines besten Agenten« zu nennen.
Als Ogden am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, war das Paar nirgends mehr zu sehen. Er hatte in einer Blitzuntersuchung herausbekommen, daß die beiden Italiener sich in Genf aufhielten, weil der Mann sich einer schwierigen Operation unterziehen mußte. An jenem Morgen waren sie schon frühzeitig zur Universitätsklinik gegangen.
Das hatte er nun wirklich zuletzt gedacht, er konnte sich das Mädchen in allen möglichen Situationen vorstellen, nur nicht in dieser. Am meisten überraschte ihn, daß er Mitleid mit ihr empfand; ein Gefühl, das er sich selten erlaubte, selbst dann nicht, wenn er im Urlaub war.
Von einem für Trinkgeld empfänglichen Portier erfuhr er ihren Namen und rief in Berlin an, um Genaueres herauszubekommen. Der Mann war Sohn eines Industriellen und hatte das Mädchen vor zwei Jahren geheiratet. Ein paar weitere Informationen, die er erhielt, alles Kleinigkeiten, erweckten in ihm den Eindruck, daß diese Ehe irgendwie merkwürdig war, gewisse Schattenseiten hatte, die er gern näher untersucht hätte. Doch dies war nicht seine Arbeit, das Leben anderer interessierte ihn nicht im geringsten. Es war nur einfach so, daß das Mädchen eine ganz besondere Anziehungskraft auf ihn ausübte, und so etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert.
Um sechs Uhr abends wurde er für seine Geduld belohnt. Nach einem äußerst langweiligen Nachmittag, an dem er mehr als einmal versucht gewesen war, die beiden Italiener ihrem traurigen Schicksal zu überlassen und nach Bern zurückzukehren, hielt er sich noch im Foyer auf, als sie hereinkam.
Sie erschien ihm noch anziehender als am Vortag, obwohl sie tiefe Ringe unter den Augen hatte und von einer eindrucksvollen Blässe war, was aber ihr Gesicht nicht etwa verschönerte, sondern ihr Aussehen beeinträchtigte.
Sie hatte das Hotel fast im Laufschritt betreten, den Zimmerschlüssel in Empfang genommen und war dann ganz langsam zum Lift gegangen, als wäre die Energie, die sie bis hierher gebracht hatte, plötzlich verbraucht gewesen. Während sie auf den Lift wartete, streifte ihr Blick mit dem gleichen Interesse zuerst ihn und dann ein Gemälde mit sturmgepeitschter See, auf dem merkwürdigerweise keine Schiffe zu sehen waren, so daß das Bild eher wie die bedrohliche Aussicht aus einem Bullauge wirkte. Dann betrat das Mädchen den Aufzug, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Als Ogden seinen Schlüssel holte, sah sein Informant ihn traurig an: »Haben Sie die Ärmste gesehen? Heute abend wird sie allein essen, und bei den Sorgen …«
Er ging in sein Zimmer und wartete geduldig, bis es Abendessenszeit war. Er hatte beschlossen, ohne weiteren Zeitverlust noch an diesem Abend ein kleines Abenteuer zu beginnen.
Ogden drehte sich auf den Rücken. Die Hände des Masseurs begannen nun seinen Bauch zu bearbeiten.
»Ein Körper mit perfekter Muskulatur«, bemerkte der Alte zufrieden.
»Ich treibe viel Sport«, sagte Ogden ohne Prahlerei. Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, befiel ihn Atemnot. Er fuhr hoch.
»Was ist mit Ihnen?« fragte der Masseur besorgt.
Ogden sah sich in dem Spiegel gegenüber. Er erkannte den Ausdruck des Schreckens in seinen aufgerissenen Augen. Während er nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen, sah er das Gesicht jenes einzigen Menschen vor sich, den er in einem heftigen, für sich selber folgenlosen Zweikampf mit bloßen Händen getötet hatte. Der Ostagent mußte sterben, weil er sich im falschen Augenblick am falschen Ort befand: es hatte Ogden ziemlich viel Mühe gekostet, ihn zu erwürgen.
»Atmen Sie tief durch«, forderte ihn der Masseur jetzt auf. »Nur keine Panik, es ist nur ein Asthmaanfall. Los, atmen Sie tief durch.«
Ogden atmete wie eine Schwangere kurz vor der Entbindung. Er kam sich lächerlich vor, wie ein großer Hund mit heraushängender Zunge. Aber die erhoffte Wirkung
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