Der Spion und der Analytiker
American Bar des De France. Das Lokal war noch voller Touristen; an einem Tisch ganz in seiner Nähe entdeckte er das rotblonde Mädchen in Gesellschaft zweier ziemlich betrunkener Amerikaner. Er überlegte, welchen von den beiden sie heute abend wohl mit ins Bett nehmen würde. Sehr wahrscheinlich keinen: das Virus machte enthaltsam.
Vielleicht hätte sich seine Stimmung durch eine Frau ja bessern lassen. Er hätte einen Blick in das spezielle Nummernverzeichnis werfen können, das jeder Agent des Dienstes mit auf den Weg bekam, eine großartige Idee von Casparius, um zu vermeiden, daß seine Leute sich irgendwo ansteckten, wenn sie sich so durch die Welt vögelten: ein exklusives Netz von Callgirls mit einwandfreiem Gesundheitszeugnis. Diese große sexuelle Familie, mit soundsovielen austauschbaren Ehefrauen quer über den ganzen Planeten hatte die ganze erotische Aktivität in einer solchen Langeweile erstickt, daß die Abteilung Führung in letzter Zeit eine beunruhigende Abnahme der Betätigung in diesem besonderen Bereich feststellen mußte.
Das amerikanische Mädchen warf ihm einen aufreizenden Blick zu, den er mit einem Nicken beantwortete. Die beiden Männer sahen ihn mißtrauisch an, aber das Mädchen kümmerte sich nicht um sie, sie stand auf und kam hüftenschwenkend auf seinen Tisch zu. Als sie vor ihm stand, lächelte sie.
»Guten Abend, darf ich mich setzen?«
»Aber bitte, es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Wir haben uns heute schon einmal gesehen, können Sie sich erinnern? Sie saßen in der Halle, ich kam mit meiner Mutter …«
»Oh, gewiß, die Dame mit dem blauen Haar. Haben Sie die Hermès-Tasche denn jetzt gekauft?«
Sie lachte zufrieden.
»Also hatten Sie uns bemerkt …«
»Wie hätte ich Sie denn nicht bemerken können?«
Das Mädchen senkte verlegen den Blick.
»Wir Amerikaner sind immer zu laut.«
»Das ist ein Privileg der Jugend.«
»Ich freue mich so sehr, daß ich in Europa bin!« rief sie mit Kinderstimme aus. »Alles ist so schön, so interessant, so antik …«
Ogden bereute schon, daß er sich hatte hinreißen lassen, und beschloß, sie ihrer Begeisterung zu überlassen, aber das Mädchen war hartnäckig.
»Sind Sie Deutscher?« fragte sie und riß ihre Augen auf, die, wie er jetzt aus der Nähe sah, übertrieben geschminkt waren.
»Schweizer«, log er.
»Die Schweiz! Ich war ein paarmal zum Skilaufen in Sankt Moritz. Aus welcher Gegend der Schweiz stammen Sie?«
»Aus Bern. Kennen Sie es?«
Sie senkte den Blick wie eine schlecht vorbereitete Schülerin.
»Leider kenne ich nur den dortigen Flugplatz.«
Ogden lachte.
»Das ist eine sehr schöne Stadt; ich rate Ihnen, den Flugplatz das nächstemal zu verlassen.«
»Oh, das mache ich ganz bestimmt. Dann könnte ich Sie besuchen …«
»Wunderbar, wir tauschen vor der Abreise noch die Adressen aus«, schloß er mit einem breiten Lächeln und stand auf.
»Leider muß ich Sie jetzt allein lassen«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu reden, Fräulein …«
»Rosebud«, sagte sie errötend. »Ein Name, der mich seit meiner Geburt verfolgt. Rosenknospe, ist das nicht schrecklich? Ich muß ihn ändern.«
»Das ist ein wunderschöner Name«, sagte Ogden. »Orson Welles hat er sehr gefallen. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Ogden, und ich hoffe, Sie bald wiederzusehen. Gute Nacht.«
Das Mädchen sah ihm nach, bis er draußen war, dann kehrte sie an ihren Tisch zurück. Die beiden Amerikaner wirkten jetzt nüchtern; als das Mädchen wieder bei ihnen saß, begannen sie ein lebhaftes Gespräch mit ihr.
Als er sein Zimmer betrat, klingelte das Telefon bereits. Er warf den Schlüssel aufs Bett und nahm ab.
Es war eine weiche, tiefe, irgendwie vertraute Stimme.
»Ogden?«
»Ja, wer ist da?«
»Guten Abend, Veronica Mantero.«
Ogden zauderte.
»Bitte?«
»Veronica Mantero«, wiederholte die Stimme, und er erkannte jene langsame, aber sichere Art, Französisch zu reden, mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent.
»Wissen Sie noch?« fuhr sie vorsichtig fort. »Genf …«
»Sehr genau.«
»Ich habe Sie heute ins De France hineingehen sehen …«
Ogden stockte plötzlich der Atem, einen Augenblick lang befürchtete er einen neuen Anfall.
»Es ist sehr lange her …«, murmelte sie.
»Warum haben Sie mich denn heute abend nicht aufgehalten?«
Sie antwortete nicht gleich.
»Ich kam von der
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