Der Spion und der Analytiker
wenn die Person, über die ich mit Ihnen reden will, nicht blutsverwandt mit mir ist. Meiner Meinung nach«, fuhr er im Plauderton fort, »spielt Blutsverwandtschaft sowieso keine große Rolle. Sagen wir, daß die betreffende Person mehr als ein Bruder für mich ist. Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen.«
»Und um welches Problem geht es denn bei dieser Person?«
»Nun«, erwiderte Stuart nach kurzem Zögern, »mein Bruder ist dabei, vierzig Jahre seines Lebens wegzuwerfen wie einen alten Anzug. Wenn er das wirklich tut, wäre es für ihn ungeheuer schwierig, aber das ginge wohl jedem so, der sich eine neue Existenz aufbauen will.«
Guthrie beobachtete ihn aufmerksam. Irgend etwas an diesem Mann störte ihn.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und stand auf.
Stuart nickte und sah aus dem Fenster, während er weiterrauchte.
Guthrie verließ das Sprechzimmer und betrat das Wartezimmer, wobei er die Tür hinter sich schloß. Er ging zum Nebenanschluß und wählte Dietrichs Nummer.
»Hallo, Dietrich? Danke gut. Ich rufe dich an, weil mir meine Sekretärin einen unentzifferbaren Eintrag in meinem Notizbuch hinterlassen hat. Hast du einen gewissen Stuart zu mir geschickt? Verstehe. Wir sehen uns morgen auf dem Kongreß. Ja, dieser Vortrag war tatsächlich sehr interessant. Also dann bis morgen, schönen Tag noch.«
Als er das Sprechzimmer wieder betrat, sah Stuart noch immer hinaus.
»Sie haben davon gesprochen, daß Sie Angst um Ihren Bruder haben«, sagte Guthrie, während er sich an den Schreibtisch setzte. »Können Sie mir das bitte etwas genauer erklären?«
Der andere sah ihn an. In seinem Blick lag jene Gefühlskälte, die Guthrie genau kannte. Auch wenn Tonfall und Worte echte Sorge um den angeblichen Bruder auszudrücken schienen, ließ er sich nicht überzeugen. Guthrie war nicht nur ein guter Psychoanalytiker, er besaß auch die Gabe, sich wie ein Schamane einzufühlen.
»Also, mein Bruder«, fuhr Stuart fort, »– wenn Sie gestatten, daß ich ihn so nenne – hat eine sehr bewegte Kindheit gehabt. Sein Vater war im Krieg Oberst des britischen Heereskorps unter General de Gaulle. Ein sehr fähiger Mann, mehrfach ausgezeichnet; aber nach dem Krieg ist dann etwas in ihm zerbrochen, er war nicht mehr derselbe.«
Stuart stockte, als suchte er tatsächlich nach den richtigen Worten, um dem Ansehen des alten Kämpen nicht zu schaden.
»Er war eng mit meinem Vater befreundet«, fuhr er mit trauerumflortem Blick fort. »Er starb im Delirium tremens, als sein Sohn noch sehr klein war. Im Namen der Freundschaft, die ihn mit dem Oberst verbunden hatte, nahm sich mein Vater des Kindes an. Auf diese Weise sind wir zusammen aufgewachsen.«
»Können Sie mir jetzt vielleicht sagen, aus welchem Grund Sie wirklich hierher gekommen sind?« unterbrach ihn Guthrie. »Dr. Dietrich sagt, daß er Sie nicht kennt.«
Zur großen Überraschung Guthries fing der Mann fröhlich zu lachen an.
»Endlich, Doktor! Ich habe schon geglaubt, die schmeichelhaften Berichte, die in Berlin eingetroffen sind, seien ein Produkt übertriebener Sympathie. Aber ich sehe, das stimmt nicht, Sie sind tatsächlich so tüchtig, wie mein Stiefbruder behauptet«, schloß er erfreut.
»Sie haben sich mit einer Lüge in meine Praxis eingeschlichen, und ich verlange eine Erklärung von Ihnen«, sagte Guthrie abweisend.
»Gewiß, Doktor.« Stuarts Miene hatte sich verändert. Er saß aufrecht da, hatte die Beine ausgestreckt, und sein Blick verriet die Befriedigung eines Raubtiers, das sein Opfer gefangen hat. Guthrie fühlte sich an ein angriffsbereites Reptil erinnert.
»Vor ein paar Tagen haben Sie Ogden kennengelernt, stimmt’s?« Stuart hatte die Frage in dem Befehlston gestellt, an den er gewöhnt schien.
Guthrie erwiderte nichts, der andere zuckte die Achseln und lächelte.
»Sie haben sich auf dem Kongreß kennengelernt, und Ogden hat Ihnen noch am selben Tag das Leben gerettet. Ich weiß alles, Doktor, Ogden arbeitet mit mir bei dem berühmten Dienst …«
Guthrie blieb stumm.
»Sie trauen mir nicht«, erklärte Stuart mit scheinbarer Geduld, »und das ist ein Fehler. Ich bin von unserem Chef Casparius hierher geschickt worden, um euch zu helfen. Auch Sie stecken mit in dieser Geschichte drin, Doktor. Unter weniger dramatischen Umständen hätten Sie mich nie kennengelernt: Ogden ist ein hervorragender Agent, der beste, aber in diesem Fall braucht er Hilfe, für sich selbst und für den Auftrag.«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
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