Der Spitzenkandidat - Roman
interessant, dachte Wagner. Vermutlich stand sie auf Steins Liste für einen möglichen Posten im künftigen Kabinett. Stein wollte die Liste morgen bekannt geben. Daraus würde nun nichts mehr.
Einige Minister waren gesetzt. Neben Innenminister Fritz Krause vor allem Schneider, der Kultusminister werden sollte. Nicht wegen der fachlichen Fähigkeiten, die waren mau, sehr mau. Die Braunschweiger bestanden auf einem Ministerposten, sie waren bei der letzten Kabinettsbildung leer ausgegangen. Jetzt mussten sie bedient werden.
Albi wollte mehr erfahren. „Und mit wem hat er sich im Schweizerhof getroffen? Denken Sie nach, Hamad. Als Fahrer entgeht einem sowas nicht.“
Aber Hamad wusste es nicht. Über die Verabredung mit Marion Klaßen habe Stein freimütig von sich aus gesprochen. Über die Verabredung im Schweizerhof: kein Wort, kein Name, kein Thema oder Anlass, nicht einmal eine Andeutung. Angeblich hatte Stein auch nicht telefoniert, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit dem Schweizerhof. Hamad schien die Wahrheit zu sagen, denn er erwähnte von sich aus den Anruf, bei dem Stein mit dem Landesvorsitzenden über einen Fernsehauftritt gesprochen hatte. Wagner erinnerte sich gut. Die Argumente, mit denen Stein sich auch hier in den Vordergrund gedrängt hatte, waren dem Parteivorsitzenden übel aufgestoßen. Auch Wagner selbst waren sie anmaßend und arrogant erschienen. Typisch Stein, hatte er gedacht, aber der Erfolg gab ihm recht. Und darauf kam es an, im Wahlkampf mehr als sonst.
Hamad betonte, wie anstrengend das Fahren zurzeit sei: die Hitze, die vielen Baustellen.
„Und was war heute morgen?“, fragte Bitter. „Sie wollten Stein doch sicherlich zu Hause abholen. Wann haben Sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt? Sie haben es doch gemerkt?“ Hamad nickte. „Ich warte jeden Morgen um sieben vor der Gartentür. Er war immer pünktlich, übertrieben pünktlich, wenn Sie mich fragen. Heute nicht. Viertel nach sieben habe ich an der Haustür geklingelt, niemand hat aufgemacht. Darüber habe ich mich gewundert, die Steins haben doch eine Tochter, die zur Schule geht. Normalerweise bringt Frau Stein die Kleine kurz vor acht in die Schule. Nettes Kind, sehr gut erzogen, manchmal habe ich sie in die Schule gebracht. Sie fährt gerne auf dem Vordersitz mit. Einmal hat sie mich überredet, Stein fand das nicht …“
„Hamad, bitte!“
Angeblich hatte Hamad nicht weiter nachgehakt, vor allem war er nicht ums Haus herum gegangen und er hatte nicht durch ein Fenster geblickt. Allein schon Bitters diesbezügliche Frage erschütterte den redlichen Mann. Danach war er in die Parteizentrale gefahren. Frau Stigler, die sonst alles wusste, musste passen und schickte den Fahrer nach Hause. Dort bekam er den Anruf von Bitter. Er hatte sich dann gleich auf den Weg gemacht.
Wagner war gedanklich immer noch bei Steins Haus. Warum hatte seine Frau nicht geöffnet? Hatte sie nicht zu Hause übernachtet oder war sie früher zur Schule gefahren. Wenn sie zu Hause geschlafen hatte, musste sie sich über den ausbleibenden Gatten gewundert haben? Oder nicht? War die Krise, in der die Ehe der beiden steckte, viel schlimmer, als Wagner bislang vermutet hatte?
Auch Bitter stellte sich diese Frage, dann dem Fahrer und zu guter Letzt dem Wahlkampfmanager. Wagner druckste herum. Loyalität galt für ihn über den Tod hinaus. Albis Lächeln verriet Sympathie. Dann meinte er: „Ich werde der Witwe einen Beileidsbesuch abstatten. Ich kenne sie seit Langem. An die Zusammenarbeit mit ihr denke ich gerne zurück – besonders dann, wenn die Stigler ihre schlechte Laune im Büro auslebt.“ Er zwinkerte, ein verschwörerischer Blick unter Männern, der auch den Fahrer mit einschloss.
Bitter verabschiedete den Fahrer, bat ihn, sich zu melden, wenn ihm noch etwas einfallen sollte. Jede Kleinigkeit sei von Interesse. Dass Hamad noch Besuch von der Polizei bekommen würde, band er ihm lieber nicht auf die Nase. Auch dass Hamad nach der Wahl vermutlich ein Problem mit seiner Anstellung bekäme, musste er ihm nicht ausgerechnet heute beibringen. Der designierte Cheffahrer des künftigen Ministerpräsidenten hatte durch den Mord seine Arbeitsplatzgarantie verloren. Bitter würde seinen eigenen Fahrer mitbringen. Wagner wusste das, Hamad nicht. Er würde es noch früh genug erfahren und im Moment hatten sie andere Sorgen.
15
Um Viertel nach elf unterbrachen alle deutschen Rundfunk- und Fernsehsender ihr Programm. Stein war weit über
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