Der Spitzenkandidat - Roman
Frauenministerium erhalten zu haben. Marion sah aus, als würde sie zuhören. Aber sie war bei Uwe, bei seinem Kampfgeist und seiner Sympathie für sie. Wie er sie mitgerissen hatte, weil alles, was er sagte, Hand und Fuß gehabt hatte. Und jetzt lag er auf dem Obduktionstisch. Als die ersten Tränen auf ihre Bluse fielen, wurde ihr bewusst, dass sie weinte. Ein Kollege wollte sie trösten, aber sie flüchtete auf die Toilette. Sie wusch ihr Gesicht und richtete sich notdürftig her.
Bei ihrer Rückkehr fand sie einen geordneten Saal vor. Die Kollegen hatten Platz genommen, Bitter war angekommen, begleitet von Bernd Wagner, und sprach zu den Parteifreunden. Er schilderte, wo man Uwe Stein gefunden hatte und verschwieg auch die Schwere seiner Verletzungen nicht. Jemand stöhnte auf, jemand weinte, in diesen Momenten waren alle mit den schrecklichen Bildern allein. Handfeste Hinweise auf den oder die Täter lagen noch nicht vor, die Sonderkommission bestand aus dem Besten, was das LKA zu bieten hatte. Bitter sprach über den Verlust, den die Partei erlitten hatte und widmete sich dann Steins Familie. Viele wussten, dass er die Frau des Opfers kannte. Bitter hielt keine staatstragende Rede und versteckte sich nicht hinter tausendmal benutzten Floskeln. Er gab sich menschlich und traurig und allen gelang es, sich in diesen schweren Stunden hinter dem Vorsitzenden zu versammeln.
„Wir sind erschüttert. Viele, auch ich, fragen sich: Warum hat es gerade ihn getroffen, einen talentierten Politiker, der ganz am Anfang stand und noch sehr viel vorhatte? Mancher wird Wut empfinden. Es ist ungerecht, wird er sagen. Viele von uns sind gläubig und werden doch oder gerade deshalb in diesen Stunden mit Gott hadern. Erwartet von mir keine Antwort. Dies ist nicht der Moment für Antworten. Aber eines verspreche ich: Wir werden unserem Uwe ein würdiges Andenken bewahren. Wir werden nicht vergessen, was er für unsere Partei getan hat. Und bei allem, was wir künftig tun, werden wir darüber nachdenken, was Uwe getan hätte. Dann, ich bin sicher, werden wir den richtigen Weg in die Zukunft leichter finden.“
Die Abgeordneten waren ergriffen, da und dort flossen noch oder wieder Tränen.
Bitter taxierte seine Leute. Es sah aus, als würde er abschätzen, wie viel er ihnen zumuten könnte. „Und doch, liebe Freunde, dürfen wir in unserer Trauer nicht vergessen, dass in vier Wochen Landtagswahlen sind.“
Eine Diskussion entstand, mehrere Abgeordnete plädierten für Verschiebung. Das Wahlgesetz ließ diesen Schritt zu, eine parlamentarische Mehrheit werde sich organisieren lassen. Bitter wartete, bis sich die Bedenkenträger ausgetobt hatten.
Dann sagte er: „Wir könnten verschieben. Aber ich frage euch: Wollen wir das? Ich bitte euch, eindringlich zu überlegen: Wie würde Uwe in dieser Situation entscheiden? Würde er den fast sicheren Sieg aufs Spiel setzen, weil es die Pietät gebietet?“
Bitter schaute über die Köpfe. Marion sah ihm an, dass er im Stillen bangte, ob sich ein Wortführer für eine Gegenrede fände. Jetzt eine gefühlsbeladene und tränenselige Rede, am besten mit zehnmaliger Erwähnung von Uwe und seinem weinenden Kind und die Wahl würde in vier Wochen nicht stattfinden. Marion wusste um die Dynamik der Masse. Wehe, einer setzte sich an die Spitze! Wehe, dieser Jemand wäre reinen Herzens und würde untaktisch und ohne persönliche Vorteile votieren: Dann wäre bei der Abstimmung jedes Ergebnis möglich. Niemand meldete sich. Erwartungsvolle Augen starrten den Vorsitzenden an.
„Ich sage, nein, liebe Freunde. Niemals hätte Uwe Stein gewollt, dass wir verschieben. Er war von dem Wunsch getragen, dass wir in Zukunft die Geschicke des Landes bestimmen. Die Bürgerpartei tut Niedersachsen gut. Unsere verehrte Opposition hängt kraftlos in den Seilen und bietet ein Bild des Jammers. Uwe Stein hat seit Monaten für den Sieg gearbeitet. Er ist bis an seine Grenzen gegangen und manchmal darüber hinaus. Er hat seine Liebsten vernachlässigt, weil jeder gute Politiker noch eine zweite Liebe neben seiner Familie hat: Das ist die Liebe zur Heimat. Wir liegen bei 47 Prozent, ein historischer Höchststand. Vielleicht hat Uwe für diese Zahl mit seinem Leben bezahlt. Dann sollten wir jetzt nicht sagen: selber schuld. Dann sollten wir alle aufstehen und sagen: Jetzt erst recht! Jetzt machen wir den Sack zu, Uwe. Du hast die ersten Schritte gemacht, wir machen den letzten. Das ist Uwes Vermächtnis. Wir haben
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