Der Spitzenkandidat - Roman
Niedersachsen hinaus bekannt gewesen, der Mord erschütterte die Republik. Wenige Minuten zuvor hatte das niedersächsische Innenministerium den gewaltsamen Tod Uwe Steins bekannt gegeben. Mit näheren Informationen hielt sich das Ministerium bedeckt und zog sich auf die Floskel von den „laufenden Ermittlungen“ zurück. Eine Sonderkommission sei eingerichtet, mit der Leitung die erfahrene Kriminalrätin Verena Hauser beauftragt worden.
Die spärlichen Informationen, die auch nach der Pressekonferenz des LKA nicht an Substanz zunahmen, wurden fortan im Minutentakt verbreitet. Noch nie war in der über 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Spitzenpolitiker im Wahlkampf ermordet worden. Kein Sender versäumte es, darauf hinzuweisen. Selbst die privaten Anstalten, an Politik nicht sonderlich interessiert, schalteten sich ein. Ein gewaltsam getöteter und zudem populärer Spitzenpolitiker – das war der Stoff, der die Menschen bewegte, sie zu Spekulationen, Gefühlen, Meinungen inspirierte. Niemand wollte sich etwas entgehen lassen: Interviews mit Politikern im Minutentakt waren die Folge. Menschen, die in der zweiten oder dritten Reihe saßen und kaum einmal in der Öffentlichkeit zu Wort gekommen waren, rückten jetzt ins Rampenlicht, gaben in gestelzten Worten Betroffenheitsbekundungen ab. Auch die Vertreter der Oppositionsparteien, für die Stein mit seiner steil nach oben gerichteten Beliebtheitskurve eine wachsende Bedrohung gewesen war.
Marion Klaßen befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg in die Landeshauptstadt, auf der Moorautobahn war wenig Verkehr. Dem Radioprogramm widmete sie kaum Aufmerksamkeit. In Gedanken war sie bei der Fraktionssitzung, die später am Tag stattfinden würde. Alfred Bitter hatte die Sitzung einberufen. Seitdem der bisherige Fraktionsvorsitzende über eine Urlaubsreise auf Einladung eines Reisekonzernes mit Sitz in der Landeshauptstadt ins Straucheln geraten war, stand der Parteivorsitzende auch den Abgeordneten im Landtag vor. Sitzungen der Fraktion fanden in der Regel vor vollzählig anwesendem Personal statt. Ohne guten Grund blieben selbst hartgesottene Abgeordnete, die sich gerne vor Ausschussterminen drückten, Fraktionssitzungen nicht fern.
Auf der Tagesordnung stand das Hundert-Tage-Programm des künftigen Regierungschefs. Bitter wollte, dass die Fraktion sich dazu ihre eigene Meinung bildete. Seitdem Uwe Stein auf den Posten des Ministerpräsidenten zusteuerte, legte Bitter demonstrativ Wert auf die Selbstständigkeit der Fraktion. Die Abgeordneten seien eine eigenständige politische Kraft und nicht der Wurmfortsatz der Regierung, betonte er. Mehrfach hatte er im großen und kleinen Kreis Wert auf Abgrenzung gelegt. Als er selbst noch im Rennen um die Spitzenkandidatur vorne gelegen hatte, hatte man solche Töne von ihm nicht gehört.
Dass Bitter und Stein sich nicht grün waren, wusste jeder Mandatsträger. Zu tief war der Graben zwischen ihnen, nicht nur politisch, auch menschlich. Die meisten standen auf Steins Seite, er verkörperte die Zukunft, sein Programm räumte mit vielen Verkrustungen auf. Seinen Politikstil fanden besonders die nachrückenden Kräfte in der Partei anziehend. Sie nahmen in Kauf, dass Stein menschlich nicht leicht zugänglich war. Die kumpelhafte polternde Art Bitters ging ihm ab, er fand, sie sei unter seinem Niveau. Ebenso wie die launigen Bemerkungen und Witze, die Bitter gerne von sich gab. Von Stein war die Bemerkung überliefert: „Leite ich einen Schützenverein oder eine Partei?“
Bitter war umgänglicher, verbreitete Stallwärme, ging auch, bildlich gesehen, gern auf die Menschen zu, schüttelte Hände, umarmte sein Gegenüber, boxte ihm kumpelhaft gegen die Schulter. Stein war das zuwider, er hielt Abstand – in jeder Beziehung.
Marion hatte nichts gegen Bitter. Zwar gehörten sie verschiedenen Generationen an und lagen im Alter fast 30 Jahre auseinander. Auch ihr Politikverständnis konnte kaum gegensätzlicher sein. Doch sie respektierten sich. Bitter begegnete der aufstrebenden, attraktiven, blond gelockten Nachwuchspolitikerin aus Celle mit väterlichem Wohlwollen. Marion schätzte seine umgängliche Art und lachte gern über seine Witze, besonders wenn sie sich gegen die humorlose Frauenriege in der Fraktion richteten.
Anfangs gingen die Worte des Sprechers an Marion vorbei. Erst bei einer Einspielung mit Uwe Steins Stimme fiel der Groschen. Marion verriss den Wagen, Hupen trieb sie auf die rechte
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