Der Spitzenkandidat - Roman
Kein Anruf von Jürgen.
„Eine gute Nachricht wäre wohl zu viel verlangt, eine einzige gute Nachricht“, murmelte Verena vor sich hin.
Seitdem vor knapp drei Jahren ihre Beziehung mit Franz in die Brüche gegangen war, führte Verena gelegentlich Selbstgespräche. Sie hielt das für eine komische Angewohnheit, einen Beweis, dass ihr das Alleinsein nicht guttat. Im Grunde wollte sie es auch nicht. Wenn Jürgen nur nicht …, ach Schiete, es brachte nichts, darüber nachzudenken. Prüfender Blick in den Spiegel: Ein Friseurbesuch würde ihr guttun. Wer nicht mehr auf sein Äußeres achtete, befand sich auf gefährlichem Weg.
Das Schlafzimmer war der kühlste Raum. Sie zappte sich durchs Fernsehprogramm, Wiederholungen, amerikanische Schinken, im Deutschen Fernsehen eine Talkshow. Der übliche Politikerstreit, Probleme wurden benannt, Schuldzuweisungen verteilt. Wann endlich kämen die Politiker auf den Gedanken, ihre Vorschläge nicht nur verbal an den Mann zu bringen, sondern umzusetzen? Das Gelabere war frustrierend. Sie schaltete den Apparat ab, griff zu den Schlaftabletten und knipste das Licht aus. Der letzte klare Gedanke war: Bloß nicht an Jürgen Ritter denken.
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Uwe Stein ermordet!
Deutschland ist entsetzt!
Spitzenkandidat der Bürgerpartei
erschlagen aufgefunden
Der beliebte und angesehene Spitzenpolitiker Uwe Stein wurde gestern Morgen in der Eilenriede tot aufgefunden. Jemand hat den Politiker mit einem Golfschläger angegriffen und niedergeschlagen. Der zweite Schlag soll laut Polizeibericht zum Tod des Politikers geführt haben. Die Tat hat über Niedersachsen hinaus Entsetzen in Politik und Wirtschaft ausgelöst. In Berlin zeigten sich der Bundeskanzler, der niedersächsische Ministerpräsident und zahlreiche Politiker aus allen politischen Lagern schockiert
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Erschüttert zeigte sich auch Alfred Bitter, Landesvorsitzender der Bürgerpartei. Stein habe mit seiner Dynamik und seinem entschlossenen Eintreten für ein modernes Niedersachsen die Partei nach vorne gebracht. Die Partei trauere um einen ihrer fähigsten Männer. Vier Wochen vor den Landtagswahlen stelle die unfassbare Tat die Partei vor schwere Herausforderungen. Trotz des tief empfundenen Schmerzes sei sich die Parteiführung ihrer Verantwortung für Land und Menschen bewusst und habe die Gremien der Partei zu Beratungen eingeladen
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In der Parteizentrale wurde unterdessen ein Kondolenzbuch aufgelegt. Vor dem Haus bildete sich im Lauf des späten Nachmittages eine lange Schlange trauernder Menschen. Politiker aus den Niederlanden und Polen schickten Beileidsbotschaften, zu beiden Staaten unterhält Niedersachsen besonders enge Beziehungen. Empörung und Trauer äußerten auch führende Vertreter der Wirtschaft. Stein wurden seit Längerem gute Beziehungen zur deutschen Industrie nachgesagt. Es ist kein Geheimnis, dass ihn nicht wenige führende Manager gerne in verantwortlicher Position in Berlin gesehen hätten
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Die Allgemeine Niedersachsenzeitung führte erst vor wenigen Tagen ein Hintergrundgespräch mit dem Politiker (Bianca Fröhlich berichtete). Verlagsleitung und Chefredaktion teilen das Entsetzen über die sinnlose Tat und drücken den Angehörigen ihr tief empfundenes Mitgefühl aus
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Allgemeine Niedersachsenzeitung, 1. September 2011
Kurz nach vier wachte Verena Hauser auf. Sie wusste, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Heute war ihr vierzigster Geburtstag. In jüngeren Jahren hatte an diesem Tag ein Geschenk neben ihr gelegen und ihr war Kaffee ans Bett gebracht worden. Heute war sie allein, der dritte Geburtstag hintereinander ohne Mann an ihrer Seite. Niemand, der sie in den Arm nahm und küsste. Niemand, der ihr gleich nach dem Aufwachen gratulierte. Durch das geöffnete Fenster drang eine Ahnung von Kühle. Kein Vogelgezwitscher, es ging auf den Herbst zu. Sie stand auf, bevor sich Wehleidigkeit breit machen konnte. Sie zog den Bademantel an, holte Eimer und Lappen. Nach einer Stunde war das Badezimmer sauber. Der Anblick der glänzenden Fliesen und Armaturen hob ihre Stimmung. Eine Angewohnheit, mit der sie jeden Mann aus der Wohnung vertrieben hätte. Aber einen Mann gab es ja nicht, nicht mehr oder so wie es aussah nie wieder. Müde vom Putzen legte sie sich aufs Bett, war sicher, nicht einschlafen zu können und schlief schon nach wenigen Minuten ein. Um kurz vor sieben verrichtete der Wecker sein gnadenloses Werk.
Über Nacht war es endlich abgekühlt. Die Menschen atmeten freier, obwohl die
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