Der Spitzenkandidat - Roman
reinigende Gewitterfront um Hannover herumgezogen war. Auf dem Weg zur Arbeit kaufte Verena Tageszeitungen und eine überdimensionale Schachtel Pralinen. Sie wollte gewappnet sein, falls Kollegen vorbeikämen.
Auf ihrem Schreibtisch stand eine prächtige Vase mit 40 lachsfarbenen Rosen. Verena konnte es sich nicht verkneifen, die Köpfe nachzuzählen.
„Alles Gute zum Ehrentag und alles Liebe für dich. Dein J.“
Wenigstens hatte er ihren Geburtstag nicht vergessen. Sie wusste nicht recht, ob sie sich darüber freuen sollte. Das Gespräch von gestern saß ihr noch in den Knochen.
Keine Tageszeitung, die den Mord nicht auf der ersten Seite hatte. Uwe Stein wurde als größtes politisches Talent der letzten Zeit gepriesen. Verena Hauser als Chefin der Sonderkommission kam fast überall vor, einmal begegnete sie sich sogar als Bild und fand sich unvorteilhaft getroffen. Oder waren ihre Falten um den Mund herum wirklich so tief?
Petra Schramm überreichte einen Gugelhupf, es gab Küsse und Umarmungen. Ihr Dezernat hatte für einen Geschenkgutschein vom Golfhaus zusammengelegt. Verena bedankte sich und versprach hoch und heilig, den obligatorischen Umtrunk in ruhigeren Zeiten nachzuholen. Die Arbeit nahm sofort Fahrt auf. Assistentin Petra hatte die Auflistung der Personen, mit denen Stein im letzten Monat über das Handy telefoniert hatte. Die älteren Verbindungsdaten würden später folgen.
Die meisten Anrufe gingen an Steins Büro, entweder ins Vorzimmer oder an Bernd Wagner, den Wahlkampfmanager. Marion Klaßen war eine häufige Gesprächspartnerin. Die Abgeordnete musste dringend befragt werden, zumal sie Stein noch kurz vor seinem Tod angerufen hatte. Die Namen Peters und Krause verloren im zeitlichen Vergleich an Bedeutung, beide hatte Stein im letzten Monat nur zweimal angerufen. Auch mit Bitter hatte er nur zweimal telefoniert, jedes Mal sehr kurz.
Zwei Kollegen werteten die Presseberichte des Tages aus, zwei weitere setzten die Befragung der Nachbarn fort. Die polizeibekannten Jugendbanden der Landeshauptstadt wurden abgeklärt, aber Verena erhoffte sich davon nichts. Das Stichwort war im ersten Schock mehr aus Hilflosigkeit in die Runde geworfen worden. Vom Verfassungsschutz erhielt Verena die Information, dass kein Bekennerschreiben aufgetaucht war. Das Thema Terroristen war damit gestorben.
Bevor sie das Dezernat verließ, um Alfred Bitter aufzusuchen, erkundigte sie sich nach Stollmann. Er gehörte traditionell zu den Letzten am Arbeitsplatz, aber Verena hatte sich auf einen Anruf mit Glückwünschen eingestellt.
Petra Schramm zeigte wieder einmal, wo ihre besonderen Talente lagen: in der lückenlosen Auswertung von Büroklatsch. „Der kommt bestimmt später. Ist schwer beschäftigt zurzeit. Er hat eine neue Freundin. Sie könnte seine Tochter sein. Ich habe sie noch nicht gesehen, aber wer sie gesehen hat, sagt, sie sieht viel zu gut für den Zausel aus.“
Verena war überrascht, dann eingeschnappt. Warum musste sie diese Neuigkeit über den Flurfunk erfahren? Stand Stollmann ihr nicht mehr nahe genug?
„Daher das Freundschaftsband“, murmelte sie. Er hatte es in den letzten Tagen demonstrativ hergezeigt.
Petra sagte: „Der Mann ist fünfzig und steckt voll in der Midlife-Crisis, da kann es gar nicht jung genug sein. Aber glauben Sie mir, sein Liebesglück wird nur von kurzer Dauer sein, dann macht sich seine junge Freundin vom Acker. Wenn sie klug ist, jedenfalls.“
22
Im Vorzimmer des Parteivorsitzenden traf Verena auf Frau Stigler und sofort war die Erinnerung an die Staatskanzleimorde präsent. Die Stigler, noch immer bildschön und von oben herab, gab nicht zu erkennen, ob sie sich an die Kriminalbeamtin erinnerte. Dies war vermutlich der Tatsache geschuldet, dass ihre Erinnerungen an die damaligen Begegnungen nicht die besten waren.
In natura wirkte Alfred Bitter sympathischer als auf Fotografien. Er erinnerte Verena Hauser an ihren Vater. Die gleiche Statur und die gleichen schütteren silbergrauen Haare. Offenes Gesicht mit listig-verschlagener Note, aber nicht von der Art, vor der man sich in Acht nehmen musste. Er sah angegriffen aus, Wangen und Hals waren gerötet. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt. Sein Handschlag war kernig, aber nicht so maskulin, wie sie es auch schon erlebt hatte.
Er bot ihr einen Stuhl an. Es gab Kaffee. Plötzlich stand Frau Stigler neben dem Landesvorsitzenden, drückte ihm eine Topfpflanze in die Hand und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Verena konnte
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