Der Spitzenkandidat - Roman
so wohlfühlte und nach oben segelte. Immer weiter nach oben.
Sie holte ein Bier aus dem Kühlschrank. Bier stand nur für Gäste bereit, sie selbst war Weintrinkerin. Heute schmeckte es ihr. Am Küchentisch sitzend, versuchte sie sich zu erinnern. Vor einigen Monaten, bei einer Veranstaltung des Bauernverbandes in Leer, war so ein Anruf gekommen. Sie hatte Wortfetzen mitbekommen, ohne es darauf angelegt zu haben. Von Zürich war die Rede gewesen. Uwe hatte auch einen Namen genannt, irgendwas mit S. Merkwürdig, dass sie sich immer nur die Anfangsbuchstaben merken konnte, eine Marotte seit ihrer Kindheit. Sie suchte ihr Handy, vielleicht wusste Wagner etwas. Er war ständig auf seinen Fersen, er musste mehr mitbekommen haben.
Er meldete sich sofort, schien erfreut, ihre Stimme zu hören.
„Hallo, Herr Wagner, wie läuft es bei Ihnen?“
„Tach, Frau Klaßen. Ganz schrecklich, das alles. Die gesamte Wahlkampagne war auf Uwe Stein zugeschnitten, will sagen, sie war für die Katz. In der Zentrale Hektik pur und die Pressemeute sitzt mir im Nacken. Albi ist den ganzen Tag unsichtbar, meine Sekretärin hat sich das Magen-Darm-Virus eingefangen und die Stigler, der man das von Herzen wünscht, spuckt mal wieder Gift und Galle.“
Marion musste sich ein Lächeln verkneifen. Er konnte so erfrischend sein.
„Ich habe läuten hören, dass die Stigler Stress mit ihrem Mann hat.“
„Kann ich nachvollziehen. Der Ärmste tut mir von Herzen leid. Wie geht es Ihnen nach dem Schock?“
„Es fällt mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Uwe nicht mehr da ist. Ich war ja mit ihm essen, kurz vorher. Er steckte so voller Energie und Vitalität. Heute wollte er sein Schattenkabinett vorstellen.“
„Sie hätten dazu gehört.“
Eine Feststellung, keine Frage. Bei anderen hätten die Worte anzüglich geklungen, bei ihm nicht. Wagner war nicht missgünstig, Uwe hatte seine Loyalität mehr als einmal hervorgehoben. Marion mochte Wagner, er biederte sich nicht an wie viele andere Mitarbeiter im Politikapparat. Und sie schätzte die ironische Distanz, mit der er das Geschehen um sich herum kommentierte. Stein hatte ihn auf seine Art geschätzt und es gab nur sehr wenige Menschen, die Steins Sympathien genossen hatten. Genau genommen fielen ihr nur zwei ein, sie selbst und Wagner.
Auch Wagner stand auf der Liste derer, die nach dem Wahlsieg nach oben gespült worden wären.
„Kein Ministeramt für mich, er wollte mich zur Staatssekretärin machen. Alles andere hätte die Partei nicht geschluckt. Ich bin Anfang dreißig und erst seit Kurzem im Landtag, ich habe keine Hausmacht und, wenn man mal von Uwe absieht, keine Gönner. Mehr lag da nicht drin. Aber deshalb rufe ich nicht an. Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen. Passt es morgen Vormittag, auf ein Frühstück im Mövenpick?“
„Das ist schlecht. Albi hat den Parteivorstand einbestellt, da kann ich nicht weg. Nachmittags ginge es. Sagen wir 14 Uhr. Gibt es einen bestimmten Grund? Soll ich irgendwelche Unterlagen mitbringen?“
„Keine Unterlagen. Nur sich selbst, ich will mit Ihnen reden, mehr nicht. Natürlich mache ich mir Gedanken, wer das getan haben könnte, Sie waren sein engster Mitarbeiter. Die Polizei scheint auf der Stelle zu treten, vielleicht … Nicht am Telefon, morgen Nachmittag.“
Sie weiß etwas, und sie will nicht mit der Polizei darüber reden, ging es Wagner durch den Kopf, während er in seinem Schreibtisch nach Süßigkeiten suchte.
25
Schwester Hildegard erinnerte an den erbetenen Rückruf, Verena Hauser bekam ein schlechtes Gewissen. Das Telefonat war deprimierend, die Mutter wollte nicht mehr aufstehen.
Die Schwester sagte: „Wenn wir zulassen, dass Ihre Mutter den ganzen Tag im Bett bleibt, wird sich das negativ auf ihren Zustand auswirken. Je weniger aktiv Demenzkranke sind, desto schneller schreitet die Krankheit voran. Zuerst bleiben sie liegen, dann weigern sie sich zu essen und zu trinken und dann sterben sie. Aber das kann ein langer und quälender Prozess sein, manchmal zieht sich das über Jahre hin. Wir müssen dafür sorgen, dass Ihre Mutter aktiv bleibt. Vielleicht können Sie in den nächsten Tagen vorbeikommen und mit ihr reden.“
Verenas Bemühungen, Kontakt zu ihrer Mutter herzustellen, liefen seit Monaten ins Leere. Der Zustand der alten Frau hatte sich beträchtlich verschlechtert, an manchen Tagen erkannte sie ihre Tochter nicht. Jetzt dachte sie, meine Mutter hat genug vom Leben, sie will
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