Der Spitzenkandidat - Roman
auf dem Parkplatz der Staatskanzlei ab, die nur wenige Schritte entfernt lag.
Sonja Schreiber wohnte im zweiten Stock, sie erwartete die Besucherin in der Wohnungstür. Die Frau war hochgewachsen, schlank, hatte halblange blonde Haare, große blaue Augen, eine Schönheit. Wenn man dicht vor ihr stand, erkannte man die andere Sonja. Das Gesicht war aufgedunsen, rote Flecken auf den Wangen, unter den Augen Tränensäcke. Der Händedruck war feucht und lasch.
Sie führte die Besucherin in ein kleines Wohnzimmer, hier war lange nicht gelüftet worden. Als Verena im Sessel saß, entdeckte sie die leeren Flaschen unter dem Beistelltisch.
„Ich komme in der Mordsache Uwe Stein. Sie standen mit ihm in Kontakt, bis vor fünf Monaten hat er sie mehrmals wöchentlich angerufen. Welcher Art war Ihre Beziehung?“
„Wir waren befreundet.“
„Welcher Art war Ihre Freundschaft? Allzu viele Freunde hatte Herr Stein ja nicht.“ Ein giftiger Blick traf sie.
„Wir hatten eine Beziehung. Sind Sie jetzt zufrieden?“
„Ob ich zufrieden bin oder nicht, spielt keine Rolle, Frau Schreiber. Herr Stein wurde erschlagen, darum geht es. Deshalb interessiert mich, warum die Anrufe aufgehört haben.“
„Wir haben uns getrennt.“ Die Stimme der Frau war leise und ohne Betonung. Sie musste unter großem Druck stehen, ihre Augen flackerten und wie es aussah, brauchte sie den größten Teil ihrer Kraft, um sich auf das Gespräch zu konzentrieren.
„Uwe wollte es so“, fuhr sie fort. „Beziehungsweise Herr Stein. Und was Herr Stein wollte, wurde gemacht.“
„Sie klingen bitter. Waren Sie mit der Trennung nicht einverstanden?“
Sonja Schreiber nestelte an ihrer Bluse und vermied es, Verena anzublicken. Die Bluse war schmutzig und zerdrückt, unter den Achselhöhlen zeichneten sich Schweißflecken ab.
„Das spielte keine Rolle. Er wollte es so. Aus Rücksicht auf die Karriere. Die Karriere war sein Ein und Alles, wichtiger als Essen und Trinken. Deshalb beendete er die Beziehung: weil er Angst um seine Karriere hatte. Ein künftiger Ministerpräsident und eine Geliebte, das gehe gar nicht, meinte er. In Italien ja, aber nicht in Deutschland und schon gar nicht in Niedersachsen mit dem katholischen Emsland. Und von mir wollte er Verständnis. Sagen Sie mal einem Feigling, dass Sie es ganz toll finden, wie feige er ist.“
Die Fassade bröckelte. Sie war nicht nur traurig über den Verlust. Sie war vor allem zornig.
Hass stand auf Platz eins der Mordmotive noch vor Geldgier. „Wie lange ging es? Ihr Verhältnis meine ich.“
„Fast zwei Jahre. Seinetwegen habe ich meinen Mann und meine Tochter verlassen. Wir wollten heiraten und eigene Kinder haben. Das hat Uwe am Anfang zumindest behauptet. Am Anfang war sowieso alles himmlisch. Das Erwachen kam später. Zu spät!“
Die Geschichte, die nun folgte, hörte Verena nicht zum ersten Mal. Es wäre ihr lieb gewesen, wenn sie diese Geschichte nicht aus eigenem Erleben gekannt hätte. Am Anfang stand die Euphorie: Sex und Gemeinsamkeit, jede Stunde zu zweit wurde genossen, es gab nur Gegenwart und das Warten auf die nächste Gegenwart. Bis sich der Alltag wieder in den Vordergrund schob. Sehr langsam und auch nicht kontinuierlich, sodass man die Warnzeichen lange ignorieren konnte. Und am Schluss folgte die bittere Erkenntnis, dass er seine Frau nicht verlassen würde. „Er hat seine Frau geliebt“, hatte Bitter gemeint. Aber glücklich hatte er sie nicht gemacht, das stand fest. Vielleicht war seine Entscheidung aber auch nur der Parteiräson geschuldet.
„Nach dem Braunschweiger Parteitag machte er mit mir Schluss, und ich erkannte, dass ich eine Geliebte bin, die sitzen gelassen wurde. Wie banal! Ich wäre trotzdem bei ihm geblieben, auch wenn wir nicht geheiratet hätten, ich hätte mich mit den wenigen Stunden, den Heimlichkeiten und Versteckspielen abgefunden. Aber er servierte mich eiskalt ab.“
Ihre Stimme klang verbittert.
Vor Verenas Augen erschien das Gesicht von Franz. Auch er hatte Knall auf Fall Schluss gemacht, nach sieben Jahren. Die Erinnerung wollte auch nach mehr als zwei Jahren nicht altern. Und jetzt das Desaster mit ihrem Chef, der Schluss gemacht hatte, bevor es richtig angefangen hatte. Enttäuschung nagte nicht nur an der Frau, die ihr gegenüber saß. Gerne hätte Verena etwas Tröstliches gesagt. Aber das hätte die Balance in der Beziehung der Frauen verändert. Sie war Kriminalbeamtin, die in einem Mordfall ermittelte. Vor ihr saß eine
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