Der Spitzenkandidat - Roman
starrte an die Zimmerdecke, wo sich schon wieder die ersten Spinnen nach der letzten Reinigungsaktion häuslich eingerichtet hatten.
Seit dreieinhalb Stunden hockte der Landesvorstand hinter verschlossener Tür zusammen. Morgens hatte Albi siegessicher verkündet, die Sitzung sei eine Formalie, seine Ernennung zum Nachfolger Steins als Spitzenkandidat praktisch gelaufen. Wagner hatte ihm nicht widersprochen, aber er teilte Albis Zuversicht nicht. Der Patriarch war keineswegs unumstritten, insbesondere bei den Frauenorganisationen und den Junioren nicht. Wenn sie die Gelegenheit hätten, ihn zu piesacken, würden sie sich das nicht entgehen lassen. Durch den Hintereingang stahl sich Wagner zum Bäcker. Er war aufgebrochen, um ein Rosinenbrötchen zu kaufen und kehrte mit einer Tüte mit zwei Mandelhörnchen zurück. 1000 Kalorien würde Monika ihm vorwerfen, aber die war gottlob nicht hier. Plötzlich stand Frau Stigler vor ihm: perfekt gekleidet, perfekt geschminkt, bildhübsch und schlecht gelaunt.
„Die Sitzung ist zu Ende. Sie sollen zu Albi kommen und die neuen Plakatentwürfe mitbringen.“
Ihr herablassender Tonfall ärgerte ihn. War das die neueste Masche schöner Frauen, auf Männern wie ihm herumzuhacken? Nur weil er einige Kilos zu viel auf die Waage brachte?
Albi sah abgekämpft und zerrupft aus, schien aber aufgekratzt und guter Laune zu sein. „Bin gleich bei Ihnen!“, rief er Wagner im Vorbeigehen zu und verschwand in Richtung der Toilette. Als sie dann am Besuchertisch saßen, musste Frau Stiglers Kaffee die Lebensgeister des Vorsitzenden wecken. Danach setzte er Wagner vom Verlauf der Sitzung in Kenntnis. Es waren die Vorstandsfrauen, die die Sitzung unnötig aufgehalten hatten. Die Quoten-Peters, wie Albi die Kollegin hartnäckig und nicht erst seit heute nannte, hatte gefordert, den Wahltermin zu verschieben. Sie hatte Beifall gefunden, viel war von Pietät und Besinnungspause die Rede gewesen – eine Zumutung für den gewieften Taktiker Bitter. Er kannte die Stimmungslage in der Bevölkerung und wollte sie für die Bürgerpartei nutzen. Dann hatte die Quoten-Peters einen zweiten Grund für die Verlegung nachgeschoben: Sie brauche Zeit, um eine geeignete weibliche Regierungschefin zu finden. Bitter rauchte Kette und mokierte sich ausgiebig über die verquasten politischen Ansichten der Vorsitzenden der Frauenvereinigung. Als er merkte, dass Wagner dem Rauch auswich, sagte er: „Sie sollten es auch mal mit dem Rauchen versuchen. Ist kalorienarm.“
Damit stürzte er Wagner in eine tiefe Nachdenklichkeit. Wie hatte der Vorsitzende diese Bemerkung gemeint? War er tatsächlich zu korpulent, selbst für die Partei? Auch sein früherer Chef hatte ihn gelegentlich mit Bemerkungen dieser Art traktiert. Bitter hatte noch immer die Vorsitzende der Frauenorganisation der Bürgerpartei am Wickel.
„Stellen Sie sich vor, Wagner, sie will auf allen politischen Ebenen Frauenquoten einführen, im Landtag, in den Kreistagen und den Kommunen. Und in der Wirtschaft auch. Völlig plemplem die Frau, die Wähler vom Land laufen uns in Scharen davon! Wenn die das Wort Quote hören, denken die an Milchquote, das beste Mittel, um die Leute von der Wahlurne fernzuhalten. Aber das checkt die Tante natürlich nicht. Und dann erst die Manager in den Unternehmen und Banken, die kriegen Schreikrämpfe, wenn wir denen mit der Frauenquote kommen.“
Erbost drückte er seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. In der Parteizentrale herrschte Rauchverbot, Albi war so frei, die Regelung zu ignorieren.
„Warum sitzen Sie nicht im Vorstand, Wagner? Ich hätte Ihre Unterstützung gebrauchen können. Wäre Wächter nicht gewesen, hätte es übel ausgehen können. Nur dank seiner Hilfe hat es am Ende gereicht. Fünf Gegenstimmen, unschön, aber damit kann ich leben. Wir können also mit der neuen Kampagne loslegen. Lassen Sie mal sehen.“
Bitter griff nach dem oben liegenden Plakat und sortierte es aus. „Unvorteilhaft. Da sehe ich älter aus als ich bin.“
„Schön wär’s“, dachte Wagner. Das Gegenteil war der Fall, das Plakat schmeichelte ihm. Albi war nun mal kein smarter Typ wie Stein.
Das zweite, dritte und vierte folgte. Nummer fünf fand Gnade. „In Gottes Namen. Etwas streng, aber Landesväter dürfen streng sein. Für die aktuelle Lage angemessen. Spitzenkandidat ermordet, Werften vor dem Aus, Bildungs- und Finanzkrise, die öffentlichen Kassen leer. In so einer Lage kann man nicht grinsen wie
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