Der Spitzenkandidat - Roman
Verlegung des Wahltermines einverstanden sei. Ob die Bürgerpartei auf das Angebot eingeht, konnte Bernd Wagner nicht sagen. Hierzu sei die Entscheidung des Parteivorstandes abzuwarten
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Niedersachsenpresse, 4. September 2011
Bernd Wagner wandte sich vom Bildschirm ab und schaute aus dem Fenster. Auf dem Flur vor seinem Büro herrschte geschäftiges Treiben, von morgens bis abends Stimmengewirr. Reporter, Kamerateams, Kollegen, Abgeordnete, alle waren wichtig, alle waren in Eile. Wer Ruhe haben wollte, musste seine Tür abschließen.
Uwe Stein fehlte ihm. Keiner war darüber mehr verwundert als der Wahlkampfmanager selbst. Auch wenn Stein sich gut vermarkten ließ, die beiden hatten nicht den besten Draht zueinander gehabt. Warm waren sie miteinander nie geworden, dazu war der Politiker zu kalt. Andere Menschen interessierten ihn nicht, Mitarbeiter waren Erfüllungsgehilfen, hatten zu funktionieren.
Wagner hatte sich mehr als einmal über Steins Art aufgeregt. Was der Spitzenkandidat sagte, besaß für ihn Gesetzeskraft. Wagner war zu bedächtig für diese schneidige Herangehensweise, sah sich auch nicht als Erfüllungsgehilfen, der nur auf Anweisung handelte. Er bevorzugte Teamwork. Auch wenn Stein nach außen den Anhänger moderner Managementmethoden gab, im eigenen Haus erwartete er die kritiklose Befolgung seiner Anordnungen. Hätte Wagner nicht so ein ausgezeichnetes Verhältnis zu den Medien besessen, wäre es bald zum Eklat gekommen. Zuletzt hatten sich die beiden arrangiert, der Wahlkampf lief und Stein hatte andere Sorgen, als seinen wichtigsten Mitarbeiter zu schurigeln. Und Stein wusste, was er an ihm hatte.
Nun war Stein tot und Wagner vermisste den Kerl. Stein hatte menschliche Defizite, war gefühlskalt und manchmal hatte er sich wie ein Autist benommen. Und dennoch: Er stand für Erfolg, für Power, er hatte Visionen. Steins Erfolg wäre auch sein Erfolg geworden, jetzt stand alles wieder auf der Kippe.
Und es gab ein weiteres Schlachtfeld. Vier Monate nach der Hochzeit steckte seine Ehe in der Krise. Zwischen Monika und ihm lief es alles andere als gut. Permanente Sticheleien und Nörgeleien seiner frisch Angetrauten hatten Liebesschwüre und Sex ersetzt. Aus Partnern waren Gegner geworden, fast jeden Tag gab es Zoff. Weil Wagner sich keinen Grund denken konnte, nahm er das Schlimmste an, das er sich vorzustellen vermochte: Monika hatte ihn geheiratet, um sich gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern. Er hatte Zugang zu Kreisen, die ihr verschlossen waren. Und er bot ihr einen Lebensstil, den sie sich von ihrem ziemlich mies bezahlten Job als Kosmetikerin nicht hätte leisten können. Sein Freund Hollmann hatte ihn gewarnt. Er hatte nicht hören wollen, jetzt zahlte er die Zeche. Und dennoch fragte er sich: Konnte die Gehaltsgruppe B 6 ein ausreichendes Motiv sein, um zu heiraten? Monika war eine Schönheit und mit Ende zwanzig zu jung, um eine Versorgungsehe anzustreben. Allerdings gab sie seit vier Monaten das Geld mit vollen Händen aus: Friseurbesuche, Parfüms, Kosmetik.
Wagner sprach sich von Mitschuld an der überstürzten Hochzeit nicht frei. Er war geradezu besessen gewesen von Monika. Dass sie eine enge Freundin seiner Ex-Kollegin Sybille war, hatte seinen Enthusiasmus noch erhöht. Er hatte heimlich für Sybille geschwärmt, die allerdings einen gnadenlosen Langweiler bevorzugt hatte. Damals hatte er sich eingeredet, mit Monika eine zweite Sybille zu bekommen. Ein tragischer Irrtum. In den letzten Monaten hatte er entdeckt, was er sich gern erspart hätte: Äußerlichkeit, Humorlosigkeit, Intoleranz. Sie schoss sich auf seine mollige Figur ein und präsentierte ihm ihren knochigen Körper als Vorbild gesunder Ernährung. Sie trieb ihn aus dem Haus, wenn möglich, aß er auswärts. Nicht, weil er sich den Wanst vollschlagen wollte, sondern weil er die Predigten satthatte. Allerdings verbuchte er jede kulinarische Sünde als kleinen Sieg im Guerillakrieg gegen die dogmatische Gattin. Je mehr sie ihn bedrängte abzunehmen, umso mehr langte er zu.
Zu allem Überfluss hatte Marion Klaßen vorhin die Verabredung abgesagt, dabei hatte er sich auf das Treffen gefreut. Ein Lichtblick in den stressigen Tagen seit Steins Tod. Es gab zu viel Betroffenheit im Gebäude. Die Menschenschlange vor dem Kondolenzbuch wollte einfach nicht kürzer werden. Eine kurze Auszeit mit der attraktiven Politikerin hätte ihm gutgetan.
Wagner streckte die Beine aus, verschränkte die Hände hinterm Kopf und
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