Der Spitzenkandidat - Roman
Wohnanlagen leer, monatelang, jahrelang. Legales Geld würde vor Schmerzen aufstöhnen, illegales Geld brauchte keine kurzfristigen Renditen.
Vom Innenminister erfuhr er, welche Mafia-Nationen derzeit in Deutschland federführend waren: Russland und Italien; Albanien war im Kommen. Etliche Dezernate beim Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern befassten sich mit ihnen: die Zentralstellen für Rauschgiftkriminalität, für organisierte Kriminalität und für Internetkriminalität. Sie bemühten sich redlich, doch der Erfolg war mäßig, um nicht zu sagen, saumäßig. Die von der anderen Seite arbeiteten hochprofessionell, hatten ganz andere technische und finanzielle Möglichkeiten. Ihre Geldreserven überstiegen den Landeshaushalt der Polizei bei Weitem. Und vor allem mussten sie sich nicht an Vorschriften halten, sie verbreiteten Angst und Schrecken, indem sie Abtrünnigen mit Folter drohten. Das Gesetz des Schweigens erwies sich als deutlich erfolgreicher als das deutsche Strafrecht und die Dienstvorschriften der Polizei.
Krause sagte: „Noch wissen wir nicht, ob es Kontakte gab. Aber wenn es so war, kann ich auch nichts mehr tun. Einen Mafiamord unter den Tisch zu kehren – das schaffen wir nicht. In zehn Jahren mag das anders aussehen. Vielleicht ist unser Land dann dermaßen infiltriert, dass die Politik keine andere Wahl mehr hat, als sich mit den Mafiabossen zu arrangieren. Es gibt ja zahlreiche Schattierungen zwischen Kriminalisierung und Verbrüderung. Wenn noch zehn weitere Jahre Mafiageld ungehindert ins Land fließt, sind sie vielleicht eines Tages so wichtig für unsere Wirtschaft und die Arbeitsplätze, dass der Staat sich zwangsläufig arrangieren muss.“
„Die Banken machen es uns vor“, meinte Albi und entzündete die zehnte Zigarette des Tages.
„Sie unterstützen Betrüger im großen Stil und verkaufen Wertpapiere und sogenannte Zertifikate, die nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind.“
„Wolltest du nicht aufhören damit? Bleib bloß gesund“, knurrte Krause. „Wenn du uns jetzt auch noch mit einem Herzkasper ausfällst …“
Während Wagner den beiden zuhörte, beobachtete er die Menschen, die draußen vor dem Kondolenzbuch anstanden. Albi folgte seinem Blick.
„Sie sind so rührend“, murmelte er. „Sie wollen sich ihre Illusionen nicht nehmen lassen. Glaubt mir, manchmal ist es besser, die Wahrheit zu verschweigen.“
Krause nickte nachdenklich. „Du hast recht, die Menschen wollen die Wahrheit gar nicht wissen. Sie ducken sich lieber, als den Dingen in die Augen zu sehen. Selbst wenn morgen in allen Zeitungen stehen würde, dass große Teile der deutschen Wirtschaft im Besitz krimineller Hintermänner sind, würde sie das nicht wirklich kratzen.“
Vermutlich ist es so, dachte Wagner, auch wenn es zum Kotzen ist.
Albi fischte seine Zigarettenschachtel hervor. Sie war leer.
„Mag sein, Fritz, aber die Zeitungsheinis würden sich daran hochgeilen und der Regierungspartei die Schuld geben. Besser kein Risiko eingehen.“
35
Im Bett und im Badezimmer beschränkte sich Monika auf giftige Blicke. Am Frühstückstisch war ihr Wutpegel auf Höchstform aufgelaufen. Das erste Brötchen durfte Wagner noch straffrei verzehren, obwohl sie ihm Vollkornbrot verordnet hatte. Beim Brötchen Nummer zwei platzte ihr der Kragen. Erst in Zimmerlautstärke, bald mit giftig-schriller Stimme warf Monika ihm alle Schlagwörter an den Kopf, die sie bei diesen Gelegenheiten abzurufen pflegte: mangelnde Disziplin, fahrlässiger Umgang mit dem Körper, Bewegungsmuffel, zuletzt Hefekloß. Neu waren die Worte: „Mit dir kann man sich doch nicht mehr sehen lassen. Wie kann man nur in einem halben Jahr fast zehn Pfund zulegen? In deinem Alter!“
Er blickte sie kauend an und dachte: Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?
Sie ließ ihn nicht in Ruhe, sprach über ihr Lieblingsthema: den Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Willen. Sie betrachtete jedes Pfund, das er zugelegt hatte, als Kampfansage. „Du kannst mich gar nicht lieben, weil du genau weißt, dass ich dich nicht mag, wenn du fett bist“, knurrte sie.
Nun sprach auch er: über gute und schlechte Futterverwerter, über geringfügiges und starkes Übergewicht, über berufliche Phasen voller Strapazen, in denen es erlaubt sein müsse, mehr zu essen als in anderen Phasen. Über den Wahlkampfstress und jetzt noch die Ermordung des Spitzenkandidaten. Und Gelegenheit sich zu blamieren, gäbe es in
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