Der Spitzenkandidat - Roman
den nächsten Wochen ohnehin nicht. Sein Körper lechzte nach Zucker, seine Seele auch. Zum Ausgehen habe er momentan sowieso keine Zeit, in den nächsten vier Wochen wolle er mit diesem Thema bitte in Ruhe gelassen werden. Sie seufzte und beendete ihre Belehrungen mit den Worten: „Der Spitzenkandidat Stein hat zehnmal so viel Stress bewältigt und dabei eine fantastische Figur gehabt. Selbst Bitter, der alte Knacker, ist im Vergleich zu dir schlank wie eine Gerte.“
Er trank den letzten Schluck im Stehen, schnappte die Schlüssel und verließ türknallend die Wohnung. Die Tasche mit der Wegzehrung in Schokoladenform vergaß er und ärgerte sich darüber, mehr noch als über Monikas Vorhaltungen.
Ein Unfall auf dem Messeschnellweg – fast eine Stunde stand er im Stau. So hatte er Zeit zum Nachdenken über seine Ehe, die schon nach wenigen Monaten in einem Fiasko gelandet war. Manchmal, so wie heute, fragte er sich, ob er Monika überhaupt noch liebte. Er kam an vier Plakaten mit Uwe Stein vorbei. Der Kerl hatte ein gutes Plakat-Gesicht, ab morgen würde Albi hier hängen. Er durchsuchte das Handschuhfach. Keine Schokolade zu finden.
Die Parteizentrale erreichte er mit erheblicher Verspätung, er hetzte die Treppen hinauf. Frau Stigler kühlte ihn mit ihrer hochnäsigen Art ab. Der Parteivorsitzende dürfe nicht gestört werden, er habe Besuch vom Innenminister. Danach der Tiefschlag: der Zeitungsbericht mit der Enthüllung über Stein als Schläger.
Wagners Sekretärin meldete sich zur Arbeit zurück, noch blass und deutlich schlanker geworden. Wagner dachte: Vielleicht sollte Monika mir zum Geburtstag ein Magen-Darm-Virus schenken. Die Liste mit Journalisten, die zurückgerufen werden wollten, war lang und wurde im Minutentakt umfangreicher. Er verschanzte sich in seinem Büro und dachte an die Geschäftsführer der Werbeagentur, die in Kürze auftauchen würden. Kaum eine der Vorarbeiten, die Wagner bis zum Treffen unter Dach und Fach haben wollte, war auf den Weg gebracht. Er drängte Frau Stigler nach einem Termin bei Albi. Sie schützte ihren Boss wie Tiermütter ihre Jungen und teilte ihm mit, dass der Minister nun zwar weg sei, Bitter aber dringend zur Wahlkampfveranstaltung nach Hameln müsse. Wagner dachte: Wenn ich jemals Vorsitzender werden sollte, kommst du in den Keller. Er musste also ohne den Chef entscheiden. Kein angenehmes Gefühl, er mochte keine Alleingänge, schon gar nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand.
Verzweifelt durchsuchte er den Schreibtisch nach Süßigkeiten. Plötzlich stand Bitter vor ihm, Wagner hatte ihn nicht kommen hören. Der Vorsitzende hatte auch schon mal frischer ausgesehen. Er wirkte, als habe sein Körper das Ende der Hitzewelle noch nicht mitbekommen. Wagner wollte ihm den neuen Flyer zeigen, ungeduldig winkte der andere ab: „Lassen Sie mich bloß mit diesem Pipifax in Ruhe. Das ist Ihr Ding, nicht meins. Ich habe andere Sorgen.“
Er reichte Wagner einen Zettel: „Ich möchte, dass Sie umgehend mit dieser Dame Kontakt aufnehmen. Und wenn ich umgehend sage, meine ich umgehend. Vereinbaren Sie ein Treffen.“
Wagner las Namen und Zusatz: „Die Fotografin, die Krause gestern erwähnt hat? Hat das nicht Zeit? In wenigen Minuten kommen die Leute von der Agen…“
„Tun Sie einfach, was ich sage: Rufen Sie gleich an. Machen Sie ihr klar, dass ich ihre Arbeit über alle Maßen schätze und ihre Dienste nach der gewonnenen Wahl in Anspruch nehmen werde. Fotos für die Internetseiten der Staatskanzlei, Fotos für die Pressearbeit, Auslandsreisen und und und.“
„Muss das sein, reicht es nicht, sie mit dem Aufenthaltsrecht zu ködern. Sie gehört nicht zu den Top-Leuten in Hannover. By the way, Chef. Es gibt einige aus der Partei, die auf Aufträge warten. Leute, die für den Wahlkampf gespendet haben und bedient werden wollen.“
Bitter nahm den Telefonhörer ab und reichte ihn Wagner. „Keine Diskussion. Wenn Sie gleich anrufen, schaffen Sie noch Ihren Anschlusstermin.“
Das war eine neue Seite, die Wagner bislang bei Albi nicht kennengelernt hatte. Er musste sehr nervös sein. Die Fotografin meldete sich sofort, sie verabredeten sich für 15 Uhr im Mövenpick am Kröpcke. Falls Wagners Anruf sie in Erstaunen versetzt hatte, ließ sie sich das nicht anmerken. Nicht einmal den Grund des Treffens wollte sie wissen. Fast schien es so, als ob sie mit seinem Anruf gerechnet hatte.
Im Hinausgehen sagte Albi: „Apropos Parteispenden: Wie sieht es damit aus,
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