Der Spitzenkandidat - Roman
unter Zahnschmerzen leiden.
Verena fuhr fort: „Wir können doch nicht so tun, als ob nichts gewesen wäre – selbst wenn sie in Notwehr handelte. Jahrelange brutale Gewalt, schlimmste Verletzungen am ganzen Körper, Striemen, blaue Flecken, Hämatome und ein versuchter Giftmord. Was für ein Interesse sollte der Staat haben, das zu verschweigen? Für eine offene Antwort wäre ich dir oder meinetwegen auch Ihnen sehr verbunden. Ich erinnere daran, dass ein Fotoalbum existiert. Wie soll ich die Bilder vergessen, die ich gesehen habe? Wie wollen Sie sie vergessen? Professor Zorn wird einen Befundbericht erstellen. Sollen wir Beweisstücke verschwinden lassen?“
Ritter seufzte wie ein Vater, der nicht streng sein will, aber von einem uneinsichtigen Kind dazu gezwungen wird.
„Mit Ihren Kollegen war das weniger kompliziert, Frau Hauser. Wir müssen gar nichts verschwinden lassen. Der Minister hat mir versichert, dass es das Fotoalbum nicht mehr gibt. Es hat übrigens auch niemals existiert. Das würde jedenfalls Frau Stein bestätigen, sollte es zum Schwur kommen. Und was den Befundbericht angeht, Professor Zorn hat ihn noch nicht geliefert. Es sollte mich sehr wundern, wenn darin von Bioxiden die Rede sein sollte.“
Fassungslos starrte Verena den Mann hinter dem Schreibtisch an.
„Mich erinnert das an Zustände in Staaten, die wir gerne als Entwicklungsländer oder Dritte-Welt-Staaten bezeichnen. Wo autoritäre Regierungen tun, was sie wollen, weil es keine Instanzen gibt, von denen sie kontrolliert werden.“
Ritters Leutseligkeit hatte ihr Ende erreicht. Seine Augen blitzten zornig auf. Verena erwog die Möglichkeit, ihn zu provozieren, immer weiter, bis seine Fassade zu bröckeln begann. Was glaubte er eigentlich, wen er vor sich hatte? Ein kleines Mädchen, mit dem er nach Belieben umspringen konnte?
Bevor er ihr einen Vortrag über ihre Pflichten als Beamtin gegenüber ihrem Dienstherrn und die Rechte demokratisch gewählter Regierungen und die Auslegungsmöglichkeiten von Vorschriften im Besonderen halten konnte, überlegte sie es sich anders.
„Nun gut, wenn der oberste Dienstherr es so wünscht, werde ich mich an die Vorgaben halten. Ich kenne meine Pflichten als Landesbeamtin.“
Er gab sich keine Mühe, seine Erleichterung hinter staatsmännischer Attitüde zu verbergen.
„Glauben Sie mir, es ist für uns alle das Beste. Die Regierung trägt die Verantwortung und sie wird wissen, was sie tut. Uns steht es nicht zu, ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Dafür gibt es die Volksvertreter in den Parlamenten.“
Natürlich, dachte Verena. Es gibt sie, aber wie sollen sie die Regierung kontrollieren, wenn diese Vorgänge vertuscht und obendrein noch Geheimhaltung verordnet?
„Und mit dem Mord selbst hat das alles nichts zu tun“, fuhr der Direktor fort. „Stein wurde erschlagen, nicht vergiftet. Der Mörder läuft noch immer frei herum. Darauf sollten wir uns konzentrieren.“ Er beugte sich nach vorn, sein Gesichtsausdruck änderte sich. Jetzt war er wieder der Vorgesetzte, den sie kannte. Er erkundigte sich nach dem Stand der Fahndung. Einiges hatte er von Stollmann gehört, Frau Schreiber interessierte ihn besonders.
„Sie kommt als Täterin in Betracht“, berichtete Verena. „Obwohl ich nicht glaube, dass sie es war. Sie liebt ihn immer noch. Und sie trinkt; um die Tageszeit war ihr Alkoholpegel vermutlich zu hoch für gezielte Schläge mit einem Golfschläger.“
Sie nannte auch den Betriebsratsvorsitzenden Hübner und Alfred Bitter. „Beide hatten ein Motiv und besitzen kein Alibi. Wir sind am Ball. Natürlich hoffe ich, dass sich nicht wieder ein Minister einmischt und eine amtliche Geheimsache daraus macht. Das wäre zwar gut für den Mörder, für mich wäre es schlecht. Und für die Öffentlichkeit auch.“
„Das wird nicht so kommen. Frau Stein wäre allenfalls zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Lassen Sie die Sache also ruhen. Den Parteivorsitzenden würde ich übrigens ganz schnell vergessen, seiner Partei hat Stein doch viel zu verdanken.“
„Die Partei vielleicht, aber nicht Bitter. Den hat Stein um die Spitzenkandidatur gebracht. Bei meinem Gespräch mit Bitter habe ich den Eindruck gewonnen, dass er voller Groll und Wut steckt.“
„Ach, wissen Sie, Frau Hauser, wenn Sie an Plenarsitzungen im Landtag teilnehmen würden, wie ich das mehrfach musste, dann würden Sie ein Viertel der Abgeordneten für potenzielle Mörder halten. Sie streiten sich in
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