Der Spitzenkandidat - Roman
liebes und verständiges Mädchen, das ihrer Mutter keine Probleme bereitete. Sie war bildhübsch, zutraulich, manchmal schon kokett. Mit Charme nahm sie die Menschen für sich ein, auch ihren Vater, den ganz besonders. Sie weckte in Uwe seine weichen, nachgiebigen Seiten. Wenn Uwe mit seinem Kind zusammen war, war er ein anderer Mensch. Bis vor Kurzem. Marion hätte Isabel gerne zum Schweigen gebracht, doch sie hörte nicht mehr auf zu reden.
„Vor Kurzem hat er erstmals die Hand gegen unsere Tochter erhoben. Es war vor allem der Ausdruck in seinen Augen, der mich erschreckt hat. Ich wusste, er würde es wieder tun, und ich wusste, dass ich meine Tochter schützen muss. Der Mörder ist mir zuvorgekommen, sonst wäre Uwe an einer Arsenvergiftung gestorben.“
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Als Isabel zu reden aufhörte, hing Schweigen zwischen ihnen, ein unheilvolles Schweigen. Marions erster Gedanke war: Du bist eine Lügnerin. Du willst dich an ihm rächen, weil er sich jetzt nicht mehr wehren kann. Vor ihr saß eine Witwe, die voller Groll war und eine Zuhörerin für ihre Hasstiraden brauchte.
„Übertreiben Sie nicht ein wenig?“, fragte Marion mit erzwungener Ruhe. „Ich habe ihn jahrelang erlebt. Sie schildern einen anderen Menschen.“
Isabel Stein lächelte. „Sie also auch. Er hat also auch Sie fasziniert. Das konnte er, andere Menschen faszinieren, sie für sich einnehmen. Dabei wissen Sie selbst, wie viele Menschen er vor den Kopf gestoßen hat, um an die Spitze zu kommen. Sie nennen das Durchsetzungsfähigkeit und meinen es positiv. Ich nenne es Erbarmungslosigkeit. Wenn er wirklich der Mann gewesen wäre, für den Sie ihn immer noch halten, wie erklären Sie sich, dass er sich mit einem Kriminellen, einem Waffenschieber, eingelassen hat?“
Das erklärte sie sich gar nicht, weil es nicht wahr sein konnte. Schon zu diesem Zeitpunkt spürte sie, wie viel Kraft sie aufbringen musste, um die schockierenden Neuigkeiten nicht an sich herankommen zu lassen. Sie wollte gehen und niemals zurückkehren. Aber das Wissen würde sie mitnehmen, es begann ja schon, in ihr zu arbeiten. Also blieb sie sitzen.
Isabel Stein sagte: „Um auf Oleg Subkow zurückzukommen: Er will nur das Geld. Wenn er es hat, wird er uns in Ruhe lassen.“ Marion wich Isabels Blick aus, aber Isabel ließ sie nicht mehr in Ruhe. „Ich dachte, dass Sie mir dabei helfen könnten. Ich würde Sie nicht behelligen, wenn es jemanden gäbe, den ich um den Gefallen bitten könnte. Es gibt aber niemanden.“
„Was genau erwarten Sie denn von mir?“
„Sie sind Abgeordnete, Sie genießen Immunität. Wenn Sie nach Vaduz fahren, in die Bank gehen und das Geld aus dem Schließfach holen, wird Sie niemand an der Grenze kontrollieren. Erst recht nicht, wenn Sie die Reise mit einem politischen Termin verbinden.“
„Aber das ist … Entschuldigen Sie, das wäre doch wohl Ihre Aufgabe.“
„Aber bei mir könnten die Behörden hellhörig werden. Überlegen Sie doch: Die Ehefrau eines kürzlich ermordeten Politikers reist eine Woche nach dessen Tod nach Liechtenstein und kehrt mit einem Koffer zurück. Ich würde nie im Leben heil durch den Zoll kommen. Das Geld wird beschlagnahmt und alles geht von vorne los – mit einer Ausnahme: Oleg wird jetzt noch wütender sein.“
Marion lehnte sich zurück. Sie lachte gequält und murmelte: „Ich fahre nach Vaduz, packe 1,2 Millionen Euro in den Koffer und gehe mit dem Schatz über die Grenze.“
In Isabel Steins Gesicht entdeckte sie nichts von der Abwehrhaltung, von der sie selbst im Griff gehalten wurde.
„Und was soll danach passieren?“, fragte die Abgeordnete.
„Ich gebe Oleg Subkow das Geld und sage ihm, er soll zum Teufel gehen.“
„Fühlen Sie sich wirklich sicher? Befürchten Sie nicht, dass er die Zeugin ausschalten würde? Der Mann hat Millionen mit schmutzigen Geschäften gemacht.“
„Er ist ein eiskalter Bursche, dessen Leben nur von Geld beherrscht wird. Weshalb sollte er mich töten? Solche Leute töten nur, wenn es sein muss.“
Marion seufzte: „Ich sage das jetzt nur spaßeshalber. Ich muss herausfinden, ob es sich so absurd anhört, wie ich glaube. Ich begebe mich also auf eine Dienstreise, ausgerechnet nach Liechtenstein, das wegen der Steuer-CDs ausgesprochen schlecht auf uns zu sprechen ist. Ich brauche eine Tarnung, die sich mit meinem politischen Spezialgebiet deckt. Also verabrede ich mich mit dem Leiter des Schulamtes der Gemeinde Vaduz. In Liechtenstein gibt es ja tatsächlich
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