Der Spitzenkandidat - Roman
einschalten!“
Isabel reichte Marion das Foto. Ein niedliches Mädchen. Die Ähnlichkeit mit dem Vater war unverkennbar.
„Das kam heute mit der Post, es wurde vorgestern im Zoo aufgenommen. Meine Tochter war mit einer Schulfreundin, deren älterer Schwester und einer weiteren Freundin dort. Der Mann muss gewusst haben, dass sie in den Zoo wollte. Ich darf mir gar nicht vorstellen, dass sie über jeden Schritt informiert sind, den wir …“
Sie sprang auf und trat ans Fenster.
„Wo ist Ihre Tochter denn im Moment?“, fragte Marion behutsam.
„In ihrem Zimmer, sie schaut sich das Kinderprogramm an. Wenn Sie sie kennenlernen wollen, können wir gerne zu ihr gehen.“
Marion wollte das Mädchen nicht kennenlernen. Sie wollte mit der Sache nichts zu tun haben. Sie wollte aufstehen und gehen.
„Lassen Sie nur“, wehrte sie ab. „Was wollen Sie von mir? Ich wusste von der Sache nichts, ich hätte mir nie vorstellen können, dass Uwe mit solchen Geschäften etwas zu tun hat. Aber wir waren ja auch keine engen Freunde. Es war mehr die Politik, verstehen Sie? Sie glauben doch nicht, dass wir … dass ich mit ihm …? Das ist nicht der Fall.“
Ohne sich umzudrehen, sagte Isabel: „Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, dass Uwe zeitweise eine Geliebte hatte. Aber das war keine große Sache. Ich kenne ihren Namen. Uwe hatte keine Freunde, keinen einzigen. Sie sind der einzige Mensch, den er nicht schlecht gemacht hat. Sie hätten hören sollen, wie er über die anderen geredet hat. Er konnte so widerlich überheblich sein, so verächtlich.“
Marion wollte das nicht hören. Sie wollte nichts hören, was Uwe und ihr Andenken an ihn beschädigte. Uwe und kriminelle Geschäfte? Das konnte nicht sein. Es musste sich um ein Missverständnis handeln.
Die Witwe setzte sich wieder hin, sie schien jetzt ruhiger. Aber es gelang Marion nicht, die schrecklichen Wundmale zu ignorieren.
Dann nahm Isabel den Faden wieder auf: „Was die Geliebte angeht, es hat nicht wehgetan, es war mir egal. Ich habe sogar gehofft, dass er sie heiratet. Sie war so gehorsam, wie er es mag. Sie saß zu Hause und stand zu seiner Verfügung. Er kam, bediente sich und ging. Geliebt hat er sie nicht, geliebt hat er mich.“
„Ich weiß, dass er Sie geliebt hat. Er hat es mir selbst gesagt“, bestätigte Marion und wünschte sich weit weg. Das war ihr zu intim, sie hasste solche Gespräche und sie wollte das alles gar nicht wissen.
„Eine Liebe, für die ich teuer bezahlen musste. Es gibt Menschen, die zerstören das, was sie lieben. Uwe gehörte dazu. Er hat mich zerstört.“
Die Witwe zeigte auf ihren Arm: „Sehen Sie selbst, eine seiner Hinterlassenschaften.“
Marion schaute schnell wieder weg. Weshalb stand sie nicht einfach auf und verschwand?
Isabel deutete auf ihre Arme und Beine. Sie trug einen Rock, ihre Bluse hatte kurze Ärmel. Sie hatte aufgehört, sich zu verstecken. „Auch das war er. Er hat mich geschlagen, jahrelang.“
„Wenn es so war, weshalb haben Sie ihn nicht verlassen?“
Isabel Stein schwieg eine Weile, dann wandte sie ihr Gesicht ihrer Besucherin zu. Ein unendlich trauriges Gesicht, die Augen ganz leer.
„Ein Mann wie Uwe lässt sich nicht verlassen. Ich habe es trotzdem versucht, vor Jahren schon. Da bin ich mit Katharina ins Frauenhaus gegangen, habe meinen gesamten Schmuck mitgenommen und das Geld, das ich am Tag zuvor vom gemeinsamen Konto abgehoben habe. Ich wollte ein neues Leben beginnen.“
Sie kniff ihre Augen zusammen, ihr Blick schweifte in weite Ferne. „Ich weiß noch genau, wie es war, als ob es erst gestern gewesen wäre.“
38
O KTOBER 2005
Sie wartete bis zum zweiten Geburtstag ihrer Tochter. Sie hatte sich gedanklich lange auf diesen Tag vorbereitet, wusste, dass es nur diese eine Chance gab. Wenn sie die vermasselte, … Besser, sich das erst gar nicht auszumalen.
Als er wie jeden Morgen um sieben das Haus verlassen hatte, packte sie ihren Schmuck, das Geld und das Nötigste für ihre Tochter und sich in eine Reisetasche. Er hatte sie Isabel zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt, zusammen mit einer Handtasche im gleichen Design; beide waren aus hochwertigem Leder gefertigt. Seine Geschenke waren immer großzügig. Von außen wirkte das Gebäude in der Oststadt wenig ansprechend, wahrscheinlich war die Unauffälligkeit gewollt. Die letzten Meter bis zur Tür wurden für Isabel zu einer schweren Prüfung. Sie wusste nicht, was sie erwartete und fürchtete sich. Jahrelang hatte die
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