Der Spitzenkandidat - Roman
Angst sie gelähmt, jetzt trieb sie sie voran.
Eine junge Frau öffnete die Tür. Sie lächelte und schloss die Kleine in die Arme. Katharina hatte die blonden Haare und die blauen Augen ihres Vaters geerbt.
„Wir beide gehen jetzt ins Spielzimmer“, sagte die Frau zu dem Mädchen. „Da sind andere Kinder, da wird es dir gefallen. Deine Mami kommt später nach, dann zeigst du ihr alles.“
Isabel wurde in das Büro am Ende des düsteren Ganges geschickt.
„Was führt Sie zu uns?“, fragte die Frau am Schreibtisch. Sie mochte Mitte fünfzig sein, wirkte übermüdet und stellte sich nicht vor. Ein kritischer Blick streifte ihre exklusive Reisetasche. Der Raum war unaufgeräumt, überall lagen Akten und Papiere herum, dazwischen Fachzeitschriften.
„Ich halte es zu Hause nicht mehr aus, mein Mann schlägt mich. Die Attacken werden von Mal zu Mal brutaler. Ich habe Angst, dass er eines Tages nicht mehr damit aufhört.“
Die Frau wies auf den Stuhl, Isabel setzte sich. Das Frage- und Antwortspiel begann. Regelmäßige Schläge? Ja. Fremdgehen? Eher nicht, es war ihr auch egal, das Vertrauen war weg, die Grundlage einer ehelichen Gemeinschaft auch, und vor allem hatte sie Angst, jeden Tag, Angst vor seiner Rückkehr am Abend.
„Das Übliche also“, murmelte die Frau. „Häusliche Gewalt. Davon haben wir allein in Hannover zweitausend Fälle im Jahr, Tendenz steigend. Nicht nur in Migrantenfamilien, sondern auch in deutschen Familien, zunehmend sogar in der Mittel- und Oberschicht. Wann hat er Sie zuletzt geschlagen? Kann man etwas sehen?“
Isabel erhob sich und schob die Ärmel ihres Pullovers hoch. Im Gesicht der Frau zeigte sich keine Regung. Die Frau bekam noch mehr zu sehen: Blutergüsse auf der Brust, am Bauch, an den Seiten und auf dem Rücken in Höhe der Nieren. Seit einigen Tagen enthielt Isabels Urin Blut, aber nur wenig. Davon erzählte sie nichts.
Die Frau griff nach der Digitalkamera.
„Gut, ich mache einige Fotos als Beweismittel. Danach brauche ich Ihre Daten. Name, Adresse, natürlich auch von Ihrem Mann. Wir müssen ja die Polizei einschalten.“
Das war nicht das, was Isabel wollte. Sie war gekommen, weil sie Unterstützung suchte. Und vor allem Hilfe für einen Neuanfang unter einem anderen Namen und in einer anderen Stadt, damit Uwe sie nicht finden konnte. Eine Anzeige gegen Uwe würde seine Karriere zerstören, die als Anwalt und die als Politiker sowieso. Und das wollte sie nicht. Seine Gewalttätigkeit als Ehemann änderte nichts daran, dass er ein großartiger Politiker war. Besser als jeder, den Niedersachsen jemals aufgeboten hatte. Nein, ihr ging es nicht darum, ihm politisch zu schaden. Abgesehen davon, dass er ihr das niemals verzeihen würde. Er würde sie als Lügnerin und Verrückte hinstellen, die sich die Verletzungen selbst beigebracht hatte. Uwe kannte viele Menschen in Behörden und er kannte Richter. Er wusste, wie Richter agieren und was sie glauben würden. Sie würde Katharina verlieren, weil Uwe die Macht dazu besaß.
„Kann ich nicht einfach hierbleiben? Ohne den Namen meines Mannes zu nennen?“
„Wie stellen Sie sich das vor? Ohne Ihre Identität zu kennen, können wir Ihnen nicht helfen. Sie wollen ein neues Leben beginnen, das hat Konsequenzen. Wollen Sie ein neues Leben beginnen?“ Prüfende Augen fixierten Isabel.
„Sagen Sie, haben wir uns nicht schon einmal gesehen? Kennen wir uns?“
Isabel wollte raus. Sie konnte hier keine Hilfe erwarten, nicht in ihrer Situation. Auf Frauen in ihrer Lage war man hier nicht eingerichtet.
Katharina spielte vergnügt mit einem Mädchen in ihrem Alter, dem Aussehen nach Türkin oder Araberin. Sie wehrte sich, als Isabel sie hochnahm; sie wollte noch bleiben. Auf dem Nachhauseweg schärfte Isabel ihr ein, Papa nichts von dem Ausflug zu erzählen.
Danach unternahm Isabel keinen Versuch mehr, aus der Ehe auszubrechen. Es gab Phasen, da schlug Uwe sie kaum und sie schöpfte Hoffnung, dass es besser würde. Dann wieder prügelte er sie mehrmals wöchentlich. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Er hatte das gewusst, als er sie bat, seine Frau zu werden. War deshalb seine Wahl auf sie gefallen?
A UGUST 2011
Die Jahre gingen ins Land und Uwes Karriere nahm an Fahrt auf. Inzwischen war er ein prominenter Mann, neben dem amtierenden Ministerpräsidenten der bekannteste Politiker in Niedersachsen. Katharina war jetzt sieben und besuchte die erste Klasse der Glockseeschule in Döhren. Sie war ein
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