Der Spitzenkandidat - Roman
hatte sie abgesagt. Sie befürchtete, so eine Begegnung nicht durchzustehen. Sie wollte nicht riskieren, vor den Augen eines anderen in Tränen auszubrechen. Schon das Gespräch mit diesem Kriminalbeamten hatte ihr zugesetzt. Erst nach seinem Tod war ihr bewusst geworden, was für eine wichtige Rolle Uwe für sie gespielt hatte, wie eng sie sich ihm politisch verbunden gefühlt hatte, wie angenehm sie es gefunden hatte, dass er bei allem, was sie politisch unternahm, im Hintergrund gestanden hatte. Er hatte ihr Sicherheit und Zuversicht eingeflößt. Bei allem, was sie tat, hatte sie gewusst, es gibt ihn und er steht hinter ihr.
Marion war ein positiver Mensch, unternehmungslustig, kommunikativ, selbstbewusst. Sie stammte aus bürger lichem Haus, war stets beschützt und gefördert worden. Der Tod ihres politischen Freundes und Förderers war der erste Schicksalsschlag, den sie in ihrem Leben erlitten hatte. Die Wunde war frisch. Die Vorstellung, seiner zornentbrannten Witwe gegenüberzutreten, bereitete ihr Unbehagen.
Aber sie war auch neugierig und wusste, dass sie sich stellen musste. Uwe hätte das gewollt.
„Danke, dass Sie zurückrufen, Frau Klaßen. Mein Mann hat immer sehr achtungsvoll von Ihnen gesprochen. Das hat er nur von wenigen Menschen. Können wir uns treffen?“
Nach Vorwürfen hörte sich das nicht an. Was wollte sie von ihr? Marion sprach ihr Beileid aus und fragte: „Worum geht es denn?“
„Nicht am Telefon. Ich möchte das lieber persönlich besprechen. Geht es noch heute? Ich kann auch zu Ihnen kommen.“
Hörte sich die Stimme der Witwe nicht gehetzt an? Oder ängstlich?
Marion sagte: „Okay, ich kann in einer Stunde bei Ihnen sein.“
Es ging sogar noch etwas schneller. Marion Klaßen war nie im Haus von Uwe Stein gewesen. Alles wirkte gepflegt und aufgeräumt. Vor dem Gartentor standen Windlichter, Fotos, Blumen, sogar Stofftiere. Dutzende von Trauernden hatten ihre Aufwartung gemacht.
Die Frau, die die Haustür öffnete, bevor Marion klingeln konnte, war farblos. Sie sah elend aus und ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. Der rechte Arm war übersät mit blauen Flecken und einem großen Hämatom.
Im Wohnzimmer war für zwei Personen gedeckt. Den grünen Tee lehnte Marion ab und bat um Wasser. Die Witwe legte ihr die Kekse ans Herz, angeblich waren sie selbst gebacken. „Backen lenkt mich ab“, erklärte sie ungefragt. Während die Hausherrin eingoss, betrachtete Marion sie unauffällig. Uwes Frau war nicht hässlich, aber auch nicht schön, Durchschnitt eben, und die Ereignisse der letzten Tage hatten Spuren hinterlassen. Neben der Kanne lagen zwei Umschläge und ein Kinderfoto. Was sollte das werden?
Isabel Stein sagte: „Ich wollte am Telefon nicht reden, weil ich mir nicht sicher bin, ob mein Telefon nicht abgehört wird.“
Marion starrte sie ungläubig an. Im ersten Moment glaubte sie, die Witwe habe einen Scherz gemacht. „Abgehört? Von der Polizei?“
„Nicht von der Polizei. Von einem Mann namens Oleg Subkow.“
„Klingt wie aus einem Kriminalroman.“
„Schön wär’s“, murmelte Isabel Stein. Dem größeren der beiden Umschläge entnahm sie ein Blatt Papier und reichte es Marion.
Ein Brief, unterschrieben mit „Uwe“. Ein Testament?
„Das sieht sehr privat aus. Möchten Sie wirklich, dass ich das lese?“
Die Witwe nickte.
Schon nach wenigen Zeilen stockte Marion der Atem. Sie las den Brief zweimal, bevor sie ihn zurückgab. Marion verbarg ihr Gesicht in den Händen und stöhnte: „Oh Gott, Uwe, was hast du getan?“
„Das frage ich mich auch unentwegt, seitdem ich das zum ersten Mal gelesen habe. Vor zwei Tagen hat ein Anwalt mir den Umschlag gebracht. Wilm Hackmann, Inhaber der Kanzlei, in der Uwe jahrelang gearbeitet hat. Uwe hat den Brief dort hinterlegt. Beinahe hätte sich die Ermittlerin vom LKA alles unter den Nagel gerissen. Sie wollte wissen, worum es geht?“
„Haben Sie es ihr gesagt?“
„Natürlich nicht. Zu dem Zeitpunkt waren doch schon die Drohanrufe gekommen. Ich hatte viel zu viel Angst, die Polizei einzuschalten. Wegen Katharina. Sie haben gedroht, ihr etwas anzutun.“
Isabel Stein strich sich nervös über den Rock. Seit dem ersten Satz kaute sie immer wieder an den Nägeln.
„Was erwarten Sie von mir?“, fragte Marion. „Das sieht alles sehr gefährlich aus. Dieser Subkow ist doch bestimmt bewaffnet. Und was ist, wenn er … wenn er Ihren Mann umgebracht hat? Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen die Polizei
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