Der Sprung ins Jenseits
Bett lag und mich warm zugedeckt hatte, ging mir noch einmal alles durch den Kopf. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt, um diese ungeheuerlichen Dinge langsam auf mich einwirken zu lassen. Sie quasi reifen zu lassen. Es war alles viel zu schnell gegangen, zu abrupt. Vielleicht aber war das gut so.
An jenem Abend lag ich noch lange wach, aber nicht, weil ich nicht einschlafen konnte, sondern weil ich nicht wollte. Im Kloster und draußen auf dem Felsenplateau herrschte absolute Stille. Es war eine Stille, wie ich sie nicht mehr gewohnt war und die mich ahnen ließ, was Abgeschiedenheit für den Suchenden bedeutet.
2.
Als ich am anderen Morgen erwachte, erschien mir alles wie ein Traum. Ich war mit dem festen Willen hergekommen, die Wahrheit herauszufinden. Nun, da ich sie wußte, wollte ich sie nicht akzeptieren. Ich habe immer zu den Menschen gehört, die sich selbst Fragen stellen und die versuchen, die Antwort darauf zu finden. Solange es sich nur um Vermutungen handelte, war alles nicht so schlimm. Hier aber war aus den Vermutungen Gewißheit geworden – und diese Gewißheit war phantastischer als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. Ich war gekommen, um mir eine Frage beantworten zu lassen. Und nun mußte ich feststellen, daß diese Antwort nicht nur für eine, sondern für tausend Fragen die Lösung bedeutete. Vielleicht für alle Fragen überhaupt.
Ich richtete mich so weit im Bett auf, daß ich aus dem Fenster sehen konnte. Der Himmel war blau und wolkenlos. Im Garten beschäftigten sich einige Mönche damit, die Beete vom Unkraut zu befreien. Sie trugen grobe Arbeitskittel, die fast bis zum Boden reichten. Ihre Bewegungen waren langsam und bedächtig.
Mir wurde plötzlich schwindlig, und ich ließ mich in die Kissen zurücksinken. Vielleicht hatte ich mich vorher zu schnell aufgerichtet, oder die Helligkeit bekam mir nicht gut. Ich schloß die Augen, aber die Kopfschmerzen blieben. Mir war, als drücke etwas auf mein Gehirn. Aber das konnte nur Einbildung sein. Dann, von einer Sekunde zur anderen, waren Schwindelgefühl, Kopfschmerzen und der seltsame Druck verschwunden. Ich blieb ganz ruhig liegen und dachte nach. Das Kloster lag einige tausend Meter über dem Meeresspiegel. Vielleicht handelte es sich um eine Art Höhenkrankheit, die ich nicht kannte.
Es klopfte an der Tür, dann trat Yü Fang ein.
»Deine Abwehrreaktion ist noch so stark, daß ich keinen Kontakt herstellen konnte«, sagte er und setzte sich auf meinen Stuhl. Er lächelte. »Zwei Seelen, die sich miteinander verständigen wollen, benötigen keine Sprache. Die Telepathie ist Ersatz für alle Sprachen. Telepathie benötigt auch keinen Körper.«
»Du hast versucht, telepathische Verbindung mit mir aufzunehmen? Das also war der Druck, den ich verspürte.« Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf das Bett. »Verzeih mir bitte, Yü, wenn ich ein so ungeeignetes Versuchsobjekt bin. Es wird noch lange dauern, bis ich alles begriffen habe. Aber ich habe heute gut geschlafen.«
»Es war nur eine von den vielen Wahrheiten, die von euren Medizinern nicht anerkannt werden. Die Seele hat die Möglichkeit, funktionelle Störungen des Körpers zu beseitigen. Besonders dann, wenn diese ihre Ursache im Nervensystem haben. Sie kann aber auch den Heilprozeß organischer Krankheiten beschleunigen. Nur eines kann sie nicht …« Er grinste über das ganze Gesicht. »Den Hunger kann sie nicht stillen. Steh auf, wir gehen frühstücken.«
Als er mich allein gelassen hatte, stand ich auf und wusch mich. Dann zog ich mich an, verließ mein Zimmer und klopfte an seine Tür. Er öffnete sie überraschend schnell, und ich wußte, daß er schon auf mich gewartet hatte.
Nachdem wir gefrühstückt hatten, nahm Yü mich mit in den Klostergarten. Zum zweitenmal erlebte ich die Überraschung, mitten in dieser Steinwüste üppige Vegetation vorzufinden. Auf meine Frage erklärte er:
»Die Bewässerungsanlage wurde schon vor mehr als dreihundert Jahren gebaut. Oben in den Bergen gibt es sehr viel Wasser. Das meiste davon kommt gar nicht erst an die Oberfläche, sondern versickert im Boden, bis es auf wasserundurchlässige Schichten stößt, die es weiterleiten. Unsere Vorfahren haben oben am Hang ein unerschöpfliches Reservoir entdeckt und angezapft. Die Leitung endet unmittelbar hinter der Mauer. Das Wasser fließt auf dem Fels weiter und gelangt so unter die Schicht der fruchtbaren Muttererde, die wir hier aufgetragen haben. So kommt es vor,
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