Der Sprung ins Jenseits
daß der Boden immer feucht ist. Die Pflanzen haben genügend Wasser.«
»Und sie gedeihen trotz der großen Kälte, die hier nachts herrscht?«
»Ich glaube, daß es am Anfang Schwierigkeiten damit gegeben hat. Aber Pflanzen passen sich den Umweltbedingungen an. Genauso wie Menschen und Tiere. Die Kälte macht ihnen nichts mehr aus. Ebensowenig, wie ihnen die große Hitze bei Tag schadet. Außerdem haben wir Treibhäuser. Also keine Angst, du wirst bei uns bestimmt nicht verhungern.«
Unwillkürlich seufzte ich.
»Ich habe im Jeep noch Lebensmittel für eine Woche. Davor habe ich keine Angst. Wie geht es übrigens meinem Fahrer?«
»Den Umständen entsprechend gut. Er hat sich aus der Bibliothek eine Menge Bücher geben lassen, sitzt in seiner Zelle und studiert. Ich glaube nicht, daß ihm die Zeit hier lang werden wird – wobei es natürlich darauf ankommt, wie lange er hierbleiben wird.«
»Ich sagte dir bereits, daß ich nach Europa zurück muß. Ich habe einen neuen Forschungsauftrag erhalten. Aber ich denke doch, daß ich eine Woche hierbleiben kann.«
Yü war stehengeblieben. Er sah an mir vorbei, hinauf zu den steilen Gipfeln, die in den blauen Himmel ragten. Dann schüttelte er den Kopf.
»Ich glaube nicht, daß eine Woche genügen wird. In ein oder zwei Tagen wirst du deine Meinung geändert haben. Dann kannst du deinen Fahrer zurückschicken. Du brauchst ihn nicht mehr.«
»Wenn ich meine Pflichten vernachlässige, bekomme ich keine Aufträge mehr.«
»Was bedeutet das schon? Was willst du mit einem Auftrag, der dir keine neuen Erkenntnisse bringt? Dem wahren Leben bist du nirgends ferner als in den Städten. Jene Berge dort, die in den blauen Himmel ragen, sind die Stufen zur Ewigkeit; zu einer Ewigkeit, die du vom Beginn aller Zeit erlebt hast. Du hast es nur immer wieder vergessen. Versuche, diese ganze Erinnerung in dir zu wecken. Das Leben, das du jetzt lebst, ist in Wirklichkeit nur ein winziger Bruchteil deines gesamten Daseins. Ein einziges Menschenleben – nicht mehr. Ich weiß, das alles hört sich sehr verwirrend an. Du brauchst Zeit, um es ganz zu verstehen. Vergiß deinen Fahrer, vergiß deinen Auftrag und bleib hier. Du wirst es nicht bereuen.«
Langsam gingen wir weiter. Die Beete sahen gepflegt aus und zeugten von mühseliger Kleinarbeit. Ich fragte mich, woher die Mönche die Erde geholt hatten. Unten, in der Steinwüste, gab es keine Spur davon. Aber sie war da, die Pflanzen gediehen gut und trugen Früchte.
Yü begann wieder zu sprechen:
»Du bist beides, Alan, Körper und Seele. Du wirst lernen, beides zu trennen. Löse dich von deinem Körper und stirb, suche dir einen neuen Körper, wenn dir der alte nicht mehr gefällt. Verlasse diese Welt und finde eine neue. Entdecke die Unendlichkeit des Alls und begib dich auf die Wanderschaft durch die Weiten des Kosmos.«
In mir bäumte sich alles auf. Es war zu viel, was seit gestern auf mich einstürmte. Ich konnte nicht an einem einzigen Tag begreifen, wozu Yü zehn Jahre gebraucht hatte.
Wir waren weitergegangen und hatten uns ziemlich weit vom Kloster entfernt. Auf einer Steinbank setzten wir uns.
»In einigen Tagen wirst du mir nicht mehr so viel Widerstand entgegensetzen«, sagte Yü leise. »Es ist nichts als der natürliche Selbsterhaltungstrieb, der dich zögern läßt. Der Mensch ist gewohnt, in erster Linie auf seinen Körper zu achten. Die Seele scheint ihm weniger wichtig – dabei ist sie im Grunde genommen das einzig Wichtige. In einer Woche oder in einem Monat wirst du mich verstehen. Dann wirst du über dich selbst lachen und plötzlich begreifen, daß du zu leben beginnst. Und ich kann dir heute schon sagen, wenn du jemals dieses Kloster wieder verlassen solltest, so wirst du es nicht mehr als Alan Winter verlassen.«
Ich gab keine Antwort. Über die Mauer hinweg sah ich hinab in die unendliche Steinwüste. Nichts lebte dort unten, und nichts bewegte sich.
Und ich, nur wenige Kilometer entfernt, war dem ewigen Leben auf der Spur.
Ein wenig später, als einige Mönche kamen, um zu arbeiten, gingen wir zum Kloster zurück. Wir sprachen nicht mehr, aber ich spürte die innere Sicherheit meines Freundes, mich überzeugen zu können.
Am anderen Morgen schickte ich meinen Fahrer mit dem Jeep zur Station zurück.
Fast eine Woche lang blieb ich allein in meiner Zelle. Ein Mönch brachte mir die Mahlzeiten und versorgte mich mit Wasser. Yü sah ich nur selten. Er hatte mir am ersten Tag meines freiwilligen
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