Der Stachel des Skorpions
sich hereinschleichen, die Sache hinter sich bringen und wieder verschwinden konnte, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Sie erwarteten nicht, ihn wach vorzufinden, und mit etwas Glück, hofften sie, erfuhren sie keine Gegenwehr. Es war ein winziger Vorteil, aber besser als nichts.
In diesem Licht betrachtet war klar, wie Victor weiter vorgehen musste. Falls er deutlich genug machen konnte, dass sein Tod kein Unfall, sondern Mord gewesen war, würde alles andere im Laufe der Zeit ans Licht kommen.
Es wäre sinnlos gewesen, noch länger zu warten. Victor warf das schwere Kristallglas mit einem seitlichen Schwung, den er fast hundert Jahre zuvor auf dem Übungsgelände mit Handgranaten gelernt hatte, nach dem Kopf des Eindringlings. Der Mann würde sich ducken, oder, wenn Victor gewaltiges Glück hatte, sogar das Nachtsichtgerät verlieren. Und der niedrige Kaffeetisch kaum dreißig Zentimeter neben ihm würde ihn behindern, vielleicht sogar zu Fall bringen, falls er auszuweichen versuchte.
Victor war nicht mehr so flink, wie er es auch nur zwanzig Jahre zuvor gewesen war, aber wenn ein Mensch um sein Leben kämpft, ist er zu erstaunlichen Leistungen im Stande. Er lief um den Schreibtisch auf die Stelle zu, an der sein mutmaßlicher Meuchelmörder mit einem überraschten Aufschrei gestürzt war.
Victor stieß seinerseits ein heiseres, gutturales Kriegsgeschrei aus. Ein Krieger stirbt im Kampf, dachte er, und ich bin immer noch ein Paladin. Im nächsten Atemzug hatte er seinen Gegner erreicht, griff mit der linken Hand nach dem Nachtsichtgerät und stieß mit dem Flaschenhals in der Rechten zu.
Dann packten ihn kräftige Arme von hinten und pressten ihm ein Stück Stoff über Mund und Nase. Es waren also zwei Attentäter, nicht nur einer.
Er trat nach hinten aus und spürte, wie der Absatz seines Schuhs ein Schienbein traf. Der Griff des zweiten Mannes lockerte sich. Er versuchte sich zu drehen, mit dem Ellbogen zuzuschlagen, aber ein stechender Schmerz zuckte durch seine Brust, zog sich hinauf bis zum Kinn und den linken Arm hinab. Ein eingeklemmter Nerv, dachte er. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er konnte nicht mehr atmen.
Der Druck auf dem Tuch über dem Mund und der Nase verstärkte sich. Er hatte das Gefühl, ein Mech stünde auf seiner Brust. Er stach mit dem Hals der zerschlagenen Karaffe nach hinten und spürte einen leichten Widerstand. Dann wurde der Schmerz zu viel für ihn und er ließ die Flasche los. Er hörte nichts mehr. Die Schmerzen wurden stärker, schlimmer als alles, was er je gefühlt hatte, und er fiel in eine Dunkelheit - noch tiefer als ein dunkles Zimmer im nächtlichen Santa Fe.
Elena Ruiz kam frohen Herzens zur Arbeit. Sie hatte eine großartige Nacht hinter sich. Ein Essen mit Henrik war immer ein Erlebnis, aber dieser Abend war besonders schön geworden. Der alte Paladin war früh zu Bett gegangen, und bei den regelmäßigen Fernabfragen seines Zustands hatte ihr Kommunikator nichts als eine abgedunkelte Wohnung gezeigt, mit grünen Lichtern für alle Sicherheits- und Biometriesysteme. Sie hatte ein herrliches Essen genossen, ausnahmsweise befreit von der ständigen Sorge um Victor Steiner-Davions Gewohnheit, die Nacht zum Tage zu machen, und sich danach gründlich ausgeschlafen.
Heute war ein sonniger, klarer Morgen, und die Novemberluft war trocken und kühl. Um Innern des Gebäudes nahm sich Elena etwas Zeit, um ihren Mantel aufzuhängen. Die Heizung im Seniorenhügel war grundsätzlich höher eingestellt als im Rest des Gebäudes. Dann ging sie zu Victor Steiner-Davions Suite.
Die Tür war verriegelt. Das war nicht weiter überraschend. Der alte Mann war, was das anging, gewissenhaft genug - man hätte einen Verfolgungswahn konstatieren können. Also musste sie die Eingangstür mit ihrem Generalschlüssel öffnen. Sie setzte ihr Berufslächeln und die fröhliche Stimme auf.
»Paladin Steiner-Davion?«
Elena war nicht weiter überrascht, als sie keine Antwort erhielt. Vermutlich schlief der Paladin noch. Sie ließ die Türe zufallen und betrat die Wohnung, wobei sie bewusst keinerlei Versuch machte, leise zu sein. Normalerweise genügten ihre Stimme und die Schritte, ihn aufzuwecken, falls er nach Sonnenaufgang noch schlief. Diesmal allerdings bekam sie keine Antwort.
»Paladin Steiner-Davion?«, fragte sie noch einmal. Und dann fand sie ihn.
Halle der Paladine, Genf, Terra Präfektur X, Republik der Sphäre
27. November 3134
Jonah Levin erschien am frühen
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