Der Stachel des Skorpions
Kittery-Renaissance-Exekutivkomitees traf sich diese Woche im >Etable Rouge< in Petit-Saconnex. Der allzeit unbeliebte Tisch 6 wartete schon, und erfreulicherweise hatte der Koch heute an sein Haarnetz gedacht. Es war kurz vor Mitternacht, daher waren die meisten anderen Tische leer, und die Gäste, die um die übrigen saßen, waren nicht in der geeigneten Verfassung, ein Gespräch zu belauschen.
Heute war das Treffen größer ausgefallen und hatte sich auf einen zweiten Tisch ausgeweitet, eine Folge der beschleunigten Vorgehensweise. Inzwischen aber waren nur noch die Führungsoffiziere übrig - zu dem, was Cullen eine »Führungsdiskussion« nannte und Hansel »Dessert«.
Momentan gab es für Cullen Roi nur ein Thema. »Victor Steiner-Davion.«
»Tot«, stellte Norah fest.
»Was ist mit ihm?«, fragte Hansel.
»Was hast du über seinen Tod gehört?«
»Herzschlag«, antwortete Hansel.
»Es wird eine Untersuchung geben«, stellte Norah fest. »Vermutlich durch einen Paladin. Irgendetwas geht da vor, das man geheim hält.«
»Kann uns irgendjemand mit dem Tod in Verbindung bringen?«
Norah fixierte ihn. »Gäbe es dafür einen Grund?«
»Nein.« Cullen zögerte. »Vermutlich nicht. Wir haben ein paar fähige Leute in Santa Fe, und ich kann nie sicher sein, dass keiner davon auf eigene Faust aktiv wird. Aber so weit es mich betrifft: Ich hatte nichts damit zu tun.«
Norah nippte an ihr em Daiquiri. »Vielleicht wäre es besser gewesen.«
»Nicht, wenn ein Paladin die Sache untersucht. Momentan können wir keine zusätzliche Aufmerksamkeit gebrauchen.«
»Und wie reagieren wir jetzt?«, wollte Hansel wissen.
»Wir schlachten es aus«, erklärte Cullen. »Ganz Terra weiß inzwischen von seinem Tod. Man weiß auch, dass wir mit zwei neuen Paladinen in die Wahl gehen, und das einflussreichste Mitglied des Konklaves ist nicht mehr dabei. Falls der Ausgang bisher schon unsicher war...«
»Unsicher ist nicht mehr das passende Wort«, stellte Norah fest und schürzte zufrieden die Lippen.
»Korrekt. Die Sache ist gerade deutlich riskanter geworden. Das wird es umso leichter machen, das ganze Kartenhaus zum Einsturz zu bringen, wenn die Zeit kommt. Wir dürfen nicht zulassen, dass vor der Wahl wieder Ruhe einkehrt.« Cullen Roi starrte kurz in seine Kaffeetasse und wog Pläne und Möglichkeiten ab. Er wog einen Faktor mit dem anderen ab, bis etwas klickte. »Wir brauchen einen Aufstand.«
»Ich dachte, den heben wir uns für...«
»Nein, nein«, unterbrach er ungeduldig. »Nicht den Aufstand. Den heben wir uns immer noch auf. Nur einen Aufstand. Klein genug, dass niemand Wichtiges zu Schaden kommt, aber groß genug, um die Nerven blank zu legen.«
Hansel fragte: »Wollen wir den in Genf oder anderswo?«
»Genf«, erwiderte Norah. »Aufstände irgendwo anders werden in Genf nicht mal in den Nachrichten erwähnt.«
»Und es geht darum, in die Nachrichten zu kommen«, sagte Cullen. »Das übergebe ich dir, Norah. Das ist dein Spezialgebiet. Du hast freie Hand, solange es in die Nachrichten ko mm t.«
Norahs Miene hellte sich auf. »Todesopfer?«
»Sind akzeptabel.« Er bemerkte den Ausdruck in ihren Augen. »Aber denk daran: Wir wollen sie verunsichern - mehr aber vorerst nicht!«
Senator Mallowes' Dachwohnung, Genf Präfektur X, Republik der Sphäre
27. November 3134
Am Abend nach der ersten Sitzung des Wahlkonklaves speiste Gareth Sinclair mit Senator Geoffrey Mallowes von Skye zu Abend. Die Einladung in die Dachwohnung des Senators in der Innenstadt Genfs war keine Überraschung gewesen. Mallowes war seit Langem ein enger Freund der Sinclairs. Gareth kannte den Senator seit seiner Kindheit und hatte ihn schon immer als eine Art Onkel ehrenhalber betrachtet.
Daher stattete er der Wohnung des Senators bei jedem Aufenthalt in Genf einen Besuch ab. Er hätte es in den nächsten Tagen ohnehin getan, hätte Mallowes ihn nicht bereits zum Abendessen eingeladen.
Der Senator wohnte in einem eleganten Appartement in der Nähe des Regierungspalastes. Es war luxuriös eingerichtet, mit Fußböden und Wandvertäfelungen in dunklem Naturholz, dazu mit Teppichen und Vorhängen in grünen und braunen Erdtönen. Er unterhielt auch eine komplette Dienstbotenriege, die zu jeder Tages- und Nachtzeit bereitstand. Auf
Wunsch konnte er um Mittemacht ein Käsesouffle erhalten oder um drei Uhr morgens für vier Personen den Tisch decken lassen.
Momentan stand ein Dienstbote hinter Gareth, bereit, auf jeden Wunsch zu
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