Der Stachel des Skorpions
Kristallkaraffe und ein zerbrochenes Glas gefunden hatten. Beide hätte der Paladin zwar auch vom Tisch reißen können, als er zusammenbrach, doch die Gesetzeshüter waren anderer Ansicht, und das nicht ohne Grund: Die Karaffe war auf eine Weise zerbrochen, die ihren Hals in eine scharfe Stich- und Schneidwaffe verwandelte, und das Blut daran stammte nicht von Victor Steiner-Davion.
Horn las zwischen den Zeilen des Berichts und entwickelte neuen Respekt vor dem alten Mann. Trotz seines hohen Alters und des schlechten Gesundheitszustands hatte der Paladin dem Schicksal getrotzt. Er hatte mindestens einen Angreifer verwundet. Er hatte eine Spur gelegt.
Die Polizei von Santa Fe war bereits dabei, dieser Spur zu folgen. Horn hatte jede Absicht, ihr diese Arbeit zu überlassen. Eine DNS-Analyse der Blutspuren würde ihnen eine Möglichkeit liefern, den Täter früher oder später zu überführen. Sobald seine Identität bekannt war, würde es Haftbefehle und Pressemitteilungen geben, und man würde Kontakt zu den Justizbehörden anderer Systeme aufnehmen. Wenn es erst so weit war, blieb dem Ziel dieser Suche nur noch, sich mit der Festnahme abzufinden oder die Republik der Sphäre zu verlassen. Die Suche würde unerbittlich werden - der Mord an einer Person des öffentlichen Lebens wie Victor SteinerDavion würde so schnell nicht in den Akten verschwinden -, aber auch langwierig.
Außerdem würde sie, wie Jonah Levin Horn in Genf bereits erläutert hatte, nur Handlanger zur Strecke bringen. Es schien höchst unwahrscheinlich, dass die Polizeiaktion die Männer oder Frauen lieferte, die hinter diesem Mord steckten. Die entscheidende Frage für Horn war, wie es die Mörder geschafft hatten, die beeindruckenden Sicherheitsvorkehrungen des Ritter-Hauptquartiers in Santa Fe zu umgehen. Entweder sie waren keine Wesen aus Fleisch und Blut oder sie hatten einen Helfer im Innern der Anlage gehabt... auch wenn der ihnen nicht notwendigerweise bewusst geholfen hatte.
Horn schloss die Akten im Hotelsafe ein und ging hinaus in die kalte, trockene Nacht, um sich mit demjenigen Menschen zu unterhalten, der Victor SteinerDavion in den Wochen vor seinem Tod am häufigsten gesehen und gesprochen hatte: seiner Haushälterin/Krankenschwester Elena Ruiz.
Ruiz lebte in einer E inzimm erwohnung in einem ärmeren Teil der Stadt. Es war keine schlechte Wohngegend - niemand kaufte oder verkaufte unter den Laternen an den Straßenecken illegale Drogen, vor den Häusern lag kein Müll herum, es standen keine Fahrzeugwracks am Straßenrand, und es waren auch keine leeren Häuser mit zerbrochenen Fenster-scheiben zu sehen. Und trotzdem wirkte sie trist und bedrückend. Er klopfte, und nach einer Weile, in der sie ihn vermutlich durch den Spion gemustert hatte, öffnete Ruiz die Tür.
»Mein Name ist Burton Horn«, stellte er sich vor, bevor sie ihn wegschicken konnte. Er öffnete die Mappe mit seiner beeindruckenden Anzahl von Legitimationen und ließ ihr Zeit, diese in Ruhe zu studieren. »Ich untersuche für Paladin Jonah Levin und den Exarchen den Tod des verstorbenen Paladins Victor Steiner-Davion. Darf ich hereinkommen?«
»Sicher.«
Die Frau klang müde. Sie öffnete die Tür ganz und ließ Horn in die Wohnung. Der Wohn- und Essbereich war spärlich möbliert, aber aufgeräumt. Ruiz selbst war eine zierliche, dunkelhaarige Frau mit einem hübschen Lächeln, das momentan allerdings Mühe hatte, sich bemerkbar zu machen. In ihrem abgetragenen blauen Bademantel und ohne Make-up machte sie einen übernächtigten Eindruck.
Ruiz deutete auf die Couch und nahm selbst auf einem Plüschsessel daneben Platz.
»Ich habe schon mit der Polizei gesprochen«, sagte sie. »Und mit meinem Chef, mit dem Chef meines Chefs und zwei Rittern der Sphäre. Wenn Sie für einen der Paladine arbeiten, wissen Sie das alles schon.«
»Ja«, bestätigte er. »Aber falls es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich die Geschichte von Ihnen persönlich hören.«
»Die Geschichte?«
»Was in der Nacht geschah, in der Victor SteinerDavion starb.«
Sie wirkte leicht verwirrt, bemühte sich aber trotzdem um eine Antwort. »Ich habe ihn erst... ich meine, seine Leiche erst am nächsten Morgen gefunden, als ich zur Arbeit kam, und ich sah, dass er...«
»Ich weiß«, stellte er so tröstend wie möglich fest. »Ich habe mit der Polizei bereits über den Tatort gesprochen. Sie brauchen ihn nicht noch einmal zu beschreiben. Mich interessiert mehr, was am Abend davor in der
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