Der Stalker
Anschuldigungen gegen andere erhob.
»Was glaubst du denn, was sie gemacht hat?«
»Keine Ahnung.«
»Und was willst du deswegen unternehmen?«
»Das weiß ich auch nicht. Ich wollte bloß … mit jemandem drüber reden.« Er sah den Kai entlang. »Mit jemandem, dem ich vertrauen kann.«
Anni lächelte. »Danke. Vielleicht könnte ein Hintergrundcheck nicht schaden.«
Mickey nickte. »Danke.«
Annis Handy klingelte, und die beiden fuhren zusammen. Sie nahm das Gespräch an.
»Ich bin’s, Phil. Hören Sie, wir haben hier ein Problem …«
67 »Julie? Julie …«
Keine Antwort. Suzannes Mitgefangene war ihr wieder einmal entglitten.
Suzanne hatte inzwischen überhaupt kein Gespür mehr dafür, ob es Tag oder Nacht war oder wie lange sie schon in der Kiste gelegen hatte. Nachdem sie kurz herausgelassen worden war und dieses widerliche Dosenfutter bekommen hatte, hatte sie durch Zählen versucht, der Zeit Struktur zu geben, aber es hatte nicht funktioniert. Mal hatte sie langsamer gezählt, mal schneller. Dann hatte sie immer wieder den Faden verloren und dieselben Zahlen zweimal, sogar dreimal wiederholt. Wenn ihre Gedanken abschweiften, hatte sie mitunter ganz zu zählen vergessen. Ein paarmal war sie sogar dabei eingenickt, wie beim Schäfchenzählen. Jedes Zeitgefühl war verloren.
Ihre Panik und Wut hatten nachgelassen, an ihre Stelle war eine dumpfe Resignation getreten. Ihr Körper war in eine Art Ruhemodus gerutscht und hatte sämtliche Funktionen abgeschaltet, die nicht unmittelbar dazu dienten, sie am Leben zu erhalten. Sogar ihre Fähigkeit, zu träumen, sich Dinge vorzustellen, war verschwunden. Sie lag einfach nur da. Im Nichts.
»Julie!«
Suzanne wünschte sich so sehr, dass Julie sich meldete. Sie wollte sie etwas fragen. Sie rechnete nicht wirklich mit einer Antwort, rief aber trotzdem immer wieder den Namen, aus einer Art Gewohnheit heraus. Vielleicht schlief Julie gerade. Das brachte sie auf eine neue Idee. Was wäre, wenn es ihr gelang, Julies Schlafrhythmus zu ermitteln? Dann könnten sie beide ihren Schlaf synchronisieren …
»Ja?«
Eine Antwort! Suzannes Herzschlag beschleunigte sich.
»Was ist denn?« Julie klang benommen, als wäre sie gerade aufgewacht.
»Ich hab nachgedacht«, sagte Suzanne aufgeregt. »Du heißt Julie, stimmt’s?«
»Ja.«
»Aber nicht zufällig Julie Miller, oder?«
Stille. Dann: »Was? Woher kennst du meinen Namen?«
»Du wirst doch vermisst. Es kam überall in den Nachrichten. Die Polizei war tagelang bei uns in der Abteilung.«
»Abteilung?«
»Im Gainsborough.«
»Aber …« Julie klang auf einmal hellwach und aufgeregt. »Woher weißt du das denn alles?«
»Ich glaube, wir kennen uns. Ich bin Suzanne. Ich arbeite da als Logopädin.«
»Mit Zoe zusammen?«
»Genau!«
Schweigen, während beide diese Neuigkeit verarbeiteten.
»Gott …«, murmelte Julie irgendwann. »Wirklich?«
»Hm.«
»Aber … wer kann es denn dann gewesen sein? Meinst du, wir kennen den Täter?«
»Mit Sicherheit. Wir müssen nur mal ordentlich nachdenken.«
Suzanne hörte ein leises Schaben. Wahrscheinlich war Julie aufgeregt und wälzte sich in ihrer Kiste hin und her.
Kurz darauf ertönte ein anderes Geräusch – eins, das sie kannte. Es klang so ähnlich wie das Knarren und Knirschen, das Suzanne gehört hatte, als ihre Kiste geöffnet worden war. Es war leise und flüchtig wie ein Echo. Aber unverkennbar.
»Was war das? Julie, was war das?«
Da war es wieder. Lauter diesmal und länger.
»Julie, hörst du mich? Was ist los? Was machst du da?«
Schweigen. Suzanne fürchtete schon, Julie sei wieder abgedriftet, aber dann antwortete sie doch.
»Suzanne!«
»Ja?«
»Ich glaube …« Julie war aufgeregt. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich hab einen Weg gefunden, wie wir hier rauskommen …«
68 »Hier rein«, flüsterte Rose Martin, lotste Ben Fenwick in sein eigenes Büro und schloss die Tür hinter ihm.
Nervös sah er sich um. Er wollte nicht, dass die Kollegen ihn dabei erwischten, wie er gegen Vorschriften verstieß. Was auch immer die Leute über ihn sagen mochten, er war ein Polizist, der sich strikt an die Regeln hielt. Auch wenn er sie hin und wieder zu seinen Gunsten auslegte. Doch das hier war absolutes Neuland für ihn.
Sein Gesichtsausdruck verriet Rose, was er gerade dachte. Sie musste lächeln und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit ihm zu spielen. Als er zu seinem Schreibtisch ging und sich setzte,
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