Der Stalker
er wieder denselben Adrenalinkick gespürt wie früher im Rauschgiftdezernat, der ihm direkt die Wirbelsäule hochschoss und die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Er war kampfbereit. Fäuste geballt, Zähne gefletscht. Er und Anni hatten hin und her überlegt, und ja, vom Verstand her begriff er natürlich, dass es besser war, wenn er zurückblieb und Anni zum Tatort fuhr, aber sein Herz sagte ihm etwas anderes. Er war ein Bulle. Ein Detective. Und er hätte bei den anderen sein sollen – da, wo die Action war. Er wollte den Kerl schnappen. Dafür sorgen, dass er seine Tat bitter bereute.
Aber er durfte nicht. Das Adrenalin rauschte immer noch durch seinen Körper, und er wusste nicht, wohin damit. Es zerrte an seiner Leine wie ein Tier, das unbedingt losgelassen werden will.
Und die Gelegenheit dazu kam früher, als er erwartet hatte. So früh, dass er sein Glück zuerst gar nicht fassen konnte.
Er saß im Wagen und rutschte unruhig auf dem Fahrersitz hin und her. Als Anni noch da gewesen war, hatte er sich wenigstens unterhalten können. Alles, was er jetzt hatte, war das Radio, und das war auf Radio One eingestellt. Die Moderatoren redeten unerträglichen Schwachsinn, und die Songs hatte er noch nie in seinem Leben gehört. Er spielte mit dem Gedanken, auf Radio Two umzuschalten, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Es war ihm zu vertraut, gehörte zu seiner Vergangenheit. Die DJ s kannte er schon seit seiner Jugend, genau wie die Songs. Umzuschalten wäre wie ein Eingeständnis, dass die Zeiten seiner mehrtägigen Alkohol- und Koksexzesse endgültig vorbei waren. Dass er nie wieder am Freitagabend in den Club und von dort aus am Samstagnachmittag direkt zum Fußballspiel gehen würde. Dass er nie wieder im Pub an der Bar eine Frau klarmachen, sich mit ihr das ganze Wochenende im Bett wälzen und am Montagmorgen auf dem Revier mit seinem Stehvermögen prahlen würde.
Er seufzte. Wenn er ehrlich war, wollte er ohnehin nicht mehr so leben. In ihm steckte mehr als das. Er wollte endlich wieder seinen Verstand benutzen. Sich darauf besinnen, warum er studiert hatte. Deswegen hatte er auch beim Rauschgiftdezernat aufgehört. Weil er sich Gedanken um seine Zukunft machte. Ein anderer Teil von ihm allerdings wollte immer so weiterleben, scheiß auf die Konsequenzen. Bislang hatte er diesen Teil ganz gut im Griff gehabt, aber er war sich nicht sicher, ob das ewig so weitergehen würde.
Vielleicht würde Radio Two helfen, dachte er und streckte die Hand nach dem Knopf aus. Gleichzeitig verachtete er sich dafür. Irgendein nichtssagender Achtzigerjahre-Hit plärrte aus den Lautsprechern. Mickey machte es sich in seinem Sitz bequem.
Er war froh, dass er sich Anni anvertraut hatte. Er hatte das Gefühl, dass man ihr vertrauen konnte. Und das war keine Kleinigkeit, denn trotz der unvergesslichen Erlebnisse, die er beim Rauschgift gehabt hatte, war unter seinen Kollegen kein einziger gewesen, den er als echten Freund hätte bezeichnen können. Der Kontakt zu ihnen war abgerissen, kurz nachdem er das Dezernat verlassen hatte. Aber Anni … Anni war echt in Ordnung.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als draußen etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Und er traute seinen Augen nicht.
Ein Lieferwagen war vor dem Boot zum Halten gekommen. Und nicht irgendein Lieferwagen.
Ein schwarzer Citroën Nemo.
Mickey konnte sein Glück kaum fassen. Sofort erwachte das Adrenalin in seinem Körper wieder zum Leben. Am liebsten hätte er sofort die Wagentür aufgestoßen, wäre hingerannt und hätte sich den Fahrer gegriffen, um ihn – ganz die alte Schule – über die Motorhaube zu legen. Natürlich nicht, ohne dass sein Schädel ein paarmal auf das Blech geknallt wäre. Und dann sein Lieblingssatz: »Ich hab dich am Arsch, Freundchen.«
Was Anni wohl dazu sagen würde?
Aber er tat nichts von alldem. Sein Instinkt übernahm die Führung und hielt das Adrenalin in Schach. Schau genau hin, sagte er sich. Vielleicht erfährst du was .
Er sah, wie die Fahrertür geöffnet wurde und jemand ausstieg. Falls er gehofft hatte, er würde den Fahrer erkennen, so wurde diese Hoffnung sofort zunichtegemacht. Der Fahrer trug einen Flecktarnanzug, der bis zum Hals geschlossen war, eine schwarze Wollkappe, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, und eine Pilotensonnenbrille mit riesigen Gläsern.
»Verdammt.«
Der Fahrer ging um den Wagen herum zu den hinteren Türen. Mickey beobachtete ihn sorgfältig. Mittelgroß,
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