Der Stalker
bevor sie sich gegen das Türblatt sacken ließ und ausatmete, als hätte sie lange unter Wasser die Luft angehalten.
Ihr Flur. Auf den ersten Blick schien alles wie immer, aber bei genauerem Hinsehen fielen ihr die Unterschiede auf. Dinge waren verschoben und nicht wieder an ihren Platz zurückgestellt worden. Türen und Schubladen, die sie normalerweise immer schloss, standen offen. Andere, die meistens offen waren, waren geschlossen.
Die Spurensicherung. Hoffte sie.
Ihre Wohnung hätte ihr Schutz und Geborgenheit bieten sollen. Ein Ort, an dem sie sich sicher fühlen konnte. Aber damit war es nun vorbei. Jetzt fühlte sie sich nirgendwo mehr sicher, nicht einmal in ihrem eigenen Körper. Nicht nach dem, was in der Nacht passiert war. Nach dem, was sie gerade über sich hatte ergehen lassen müssen.
Der Untersuchungsraum hatte genauso ausgesehen, wie sie ihn sich vorgestellt hatte: weiß, gefliest, steril.
Ebenso vorhersehbar wie ihre Gefühle: Nervosität, Angst, Panik.
Die Polizistin war mit ihr aufs Revier gefahren. Sie hatte darauf bestanden, dass Suzanne sie beim Vornamen ansprach. Anni. Sie waren gleich als Erstes in den weiß gefliesten Raum gegangen. Den Papierkram, hatte Anni gesagt, könnten sie auch später noch erledigen. Dann hatten sie sich auf zwei harten Stühlen gegenübergesetzt, und Anni hatte ihr alles erklärt. Dabei hatte sie ihr die ganze Zeit in die Augen gesehen.
»Wenn Sie möchten, können Sie sich psychologisch betreuen lassen. Wir leiten das gern für Sie in die Wege.«
Suzanne antwortete nicht. Ihr Mund konnte einfach keine Worte formen.
»Falls Sie das Gefühl haben, dass es Ihnen helfen würde. Ich meine, für den Fall, dass …«
In Suzannes Kopf drehte sich immer noch alles. Es war, als wäre sie aus ihrem normalen Leben gefallen und in einem bizarren Alptraum gelandet. In einer Halluzination. Einem absurden Theaterstück. Auf der Fahrt zum Revier hatte sie aus dem Fenster geschaut und die Leute auf der Straße gesehen, wie sie in Geschäften und Cafés verschwanden und wieder herauskamen. Wie sie Einkaufstüten schleppten, telefonierten, Kinderwagen vor sich herschoben. Normale Menschen, die normale Dinge taten. Ein normales Leben hatten. Und dann sie. Sie beobachtete dieses normale Leben durch die Seitenscheibe des Wagens, als schaute sie sich eine Dokumentation über einen exotischen Urwaldstamm im Fernsehen an.
Schließlich gelang es ihr, Anni zuzunicken. Anni erwiderte die Geste und legte Suzanne dann kurz die Hand aufs Knie. Suzannes erster Impuls war, ihre eigene Hand darüberzulegen und Annis Hand festzuhalten. Sie zu drücken, so fest sie konnte. Ihre einzige Verbindung zur Welt da draußen. Aber sie ließ es bleiben. Wie betäubt saß sie da und ließ zu, dass Anni ihre Hand wieder wegzog.
Anni stand auf.
»Ich müsste Sie dann noch bitten, mir Ihre Sachen zu geben«, sagte sie.
Suzanne trug immer noch das T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte, darüber ihren Bademantel. Anni verließ das Zimmer und wartete vor der Tür, bis Suzanne alles ausgezogen hatte und in das bereitliegende baumwollene Krankenhausnachthemd geschlüpft war. Als sie fertig war, setzte sich Suzanne auf die Untersuchungsliege und lehnte den Rücken gegen die Wand. Sie hatte die Bänder hinten am Nachthemd nicht zugebunden und fühlte sich nackt.
Anni kam wieder herein und hielt Suzanne mit behandschuhten Händen einen Plastikbeutel hin, damit sie ihr T-Shirt hineinwerfen konnte. Suzanne tat es, und Anni lächelte. Suzanne wollte das Lächeln erwidern, fand aber nicht die Kraft.
»Gut«, meinte Anni und setzte sich neben sie auf die Liege. »Ich muss kurz nach oben und etwas Papierkram erledigen. Meinen Sie, Sie können ein paar Minuten allein hier warten?«
Suzanne nickte mit gesenktem Kopf. Ihre Haare schwangen vor und zurück wie ein Vorhang in einer leichten Brise.
»Gut. Die Ärztin kommt gleich.« Anni legte Suzanne die Hand auf die Schulter und drückte sanft.
Dann drückte sie noch einmal etwas fester zu, bevor sie die Hand wegzog, aufstand und ging.
Suzanne war allein. Allein mit einer ganz neuen, beängstigenden Welt in ihrem Kopf.
Ihre Gedanken wanderten zurück zur letzten Nacht. Zu dem Traum, der vielleicht gar kein Traum gewesen war. Ihre Gefühle, ihre Reaktion darauf pendelten schon den ganzen Vormittag über hin und her wie der Zeiger eines Metronoms: Das ist doch Unsinn. Ich bilde mir das alles nur ein. Verschwende anderer Leute Zeit. Dann: Nein, das stimmt nicht.
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