Der Stalker
Es war real, da war jemand in meinem Zimmer. In meinem Bett. In meinem …
Sie bemühte sich, ihre wilden Gedanken zu zügeln, ihr pochendes Herz zu beruhigen. Sie saß da, die Hände zwischen die Schenkel gepresst, die Füße an den Knöcheln überkreuzt. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Wieder und wieder taumelten ihr dieselben Worte durch den Kopf.
Ich lasse mich nicht unterkriegen … ich lasse mich nicht unterkriegen … ich bin stark … ich lasse nicht zu, dass dieses Schwein mich fertigmacht …
Dann öffnete sich die Tür.
Suzanne fuhr zusammen. Eine Frau im weißen Kittel betrat den Raum, leicht übergewichtig, die Haare zu einem pflegeleichten Bob geschnitten, die Kleider unter dem Kittel in gedeckten Grau- und Beigetönen. Sie hielt eine Aktenmappe in der Hand und sah kurz hinein.
»Suzanne … Perry?« Sie blickte Suzanne mit kalkuliert emotionslosem Blick an. Ein Schutzschild, dachte Suzanne, um das Schicksal der Frauen auf Abstand zu halten, mit denen sie jeden Tag zu tun hat.
»Ja.« Suzannes Stimme klang dünn, wie eingerostet. Sie räusperte sich und unternahm einen zweiten Versuch. »Ja.«
Die Ärztin schenkte ihr ein Lächeln, das durch ihren Schutzschild hindurchging und bis zu ihren Augen reichte, als wolle sie zeigen, dass sie sich zwar nicht emotional auf ihre Patientinnen einließ, aber trotz allem noch ein Mensch war.
»Ich bin Dr. Winter«, stellte sie sich vor, immer noch mit demselben Lächeln im Gesicht. Sie warf erneut einen Blick in die Akte, dann sah sie wieder Suzanne an. »Also dann«, meinte sie, und ihr Ton war warm und ruhig, als lese sie ein Märchen vor. »Als Erstes würde ich Sie bitten, mir eine Urinprobe zu geben.«
Dr. Winter wies ihr den Weg zur Toilette und gab ihr zwei kleine Plastikbecher mit, die sie füllen sollte. Suzanne tat wie geheißen, kehrte mit den Bechern zurück und stellte sie auf den Tisch.
»So«, sagte Dr. Winter, während sie sich ein Paar Latexhandschuhe überstreifte. »Und jetzt bitte auf die Liege …«
Suzanne gehorchte. »Die Beine auseinander, Knie angewinkelt, so ist es gut. Ich beeile mich, es sollte eigentlich nicht weh tun …«
Suzanne ließ den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. Bis zu diesem Augenblick war alles noch irgendwie erträglich gewesen. Nun kam der Moment, vor dem sie solche Angst gehabt hatte.
12 Es war Nachmittag, die Sonne strahlte vom Himmel herab, und der Castle Park präsentierte sich in all seiner Schönheit. Der perfekte Ort, um einen perfekten Tag zu verbringen.
Die Burg stand schon seit zweitausend Jahren und sah so aus, als würde sie mühelos auch noch weitere zweitausend Jahre überdauern. In den gepflegten Beeten blühten die Blumen, und Spaziergänger bevölkerten die Wege. Selbst diejenigen, die auf dem Weg zur Arbeit waren oder Termine hatten, gingen langsamer, um die schöne Umgebung auf sich wirken zu lassen. Es war wie ein kleiner Urlaub in einer anderen Welt.
Hinter der Burg fiel die Parkanlage zu einem kleinen See und einem Kinderspielplatz hin sanft ab. Beim Anblick der Burg hatte Marina, die auf einer Bank saß, immer unwillkürlich Boudicca und ihre Armee vor Augen, wie sie in ihren Streitwagen über den Hügel rasten. Inzwischen tummelten sich dort, wo einst die Kriegerkönigin ihren Pferden die Peitsche gegeben hatte, während sie Pfeilen und Speeren auswich, nur noch Schulkinder auf Tagesausflügen, junge Mütter, Kindermädchen und Au-pairs. Die einzigen Angreifer, denen die Burg noch trotzen musste, waren Busladungen aufgedrehter Grundschulkinder oder in Lycra gepresste, Buggys vor sich herschiebende Mütter, für die der Hügel Teil der täglichen Joggingroute war.
Gerade in diesem Augenblick lief eine an der Bank vorbei, auf der Marina saß, eine Hand an Josephinas Kinderwagen. Marina blickte auf und lächelte. Die Frau – dünn, gebräunt, die blonden Haare zu einem straffen Pferdeschwanz aus dem schweißnassen Gesicht gebunden – sah Marina und erwiderte das Lächeln.
»Man muss dranbleiben«, schnaufte sie, als sie an Marina vorbeitrabte. »Wieder in Form kommen …« Und fort war sie.
Marina sah ihr nach. Was meinte sie damit, wieder in Form kommen? Sie hatte doch schon eine perfekte Figur. Schlank und athletisch. Nicht das kleinste Röllchen Speck am Bauch.
Trotz des Sonnenscheins war Marina plötzlich kalt, als wäre ihr die dunkle Wolke vom Morgen bis hierher gefolgt. Wurde das etwa auch von ihr erwartet? Dass sie joggen ging,
Weitere Kostenlose Bücher