Der Stalker
später noch mal probieren.
Das Gebäude war schlicht, mit braunem Schrägdach und nikotingelben Backsteinwänden. Als typisches Beispiel der Architektur der Achtzigerjahre hätte diese Symphonie in Beige alles sein können: ein Gefängnis, ein Krankenhaus oder auch ein billiges Motel in der Provinz. Aber es war nichts von alldem. Es war das zentrale Polizeirevier der Stadt Colchester.
Phil trat beiseite und ließ Rose mit den zwei Festgenommenen zuerst eintreten. Sie konnte sich allein mit dem diensthabenden Kollegen am Empfang und der erkennungsdienstlichen Erfassung herumschlagen. Viel Spaß dabei.
Phil selbst ging zur Tür neben dem Empfangstresen und gab den Zahlencode ins Tastenfeld ein. Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken.
»Entschuldigung?«
Phil, der mit der Tür beschäftigt war, begriff zunächst nicht, dass die Stimme ihm galt.
»Entschuldigen Sie.«
Er drehte sich um. Eine Frau war vom Sofa im Wartebereich aufgestanden und kam auf ihn zu. Sie sah müde aus, ihre Augen waren rot gerändert, das Gesicht von zahlreichen Sorgenfalten zerknittert. Sie trug kein Make-up, ihre Kleider waren billig und ohne Sorgfalt ausgewählt. Sie sahen aus, als hätte sie in ihnen geschlafen. Ihre Haare waren ungekämmt. Das Alter der Frau war schwer einzuschätzen, vermutlich lag es irgendwo Mitte vierzig, aber es hätten auch zehn Jahre mehr oder weniger sein können.
Rose drängte sich an ihm vorbei und schubste die beiden Reporter durch die Tür, ohne sich nach Phil umzusehen. Der pneumatische Schließmechanismus sorgte dafür, dass die Tür hinter den dreien ins Schloss fiel.
Phil blieb nichts übrig, als mit der Frau zu sprechen.
»Ja?«
Sie musterte ihn von oben bis unten. »Sie sind hier Detective, oder?«
Der Uniformierte am Empfang hatte den Zwischenfall bemerkt. »Einen Moment noch, bitte«, rief er in Richtung der Frau.
Phil hob die Hand. »Ist schon gut, Darren.« Dann wandte er sich wieder der Fremden zu. »Detective Inspector Brennan vom MIS . Was kann ich für Sie tun?«
Sie blickte ihn durchdringend an. Wie Traktorstrahlen aus einem Science-Fiction-Film, schoss es Phil durch den Kopf. »Sie haben heute eine Leiche gefunden, stimmt das?«
Phil sagte nichts.
Ihre Hand krallte sich in seinen Ärmel wie ein Geier in ein Stück Aas. »Stimmt das oder nicht? Eine junge Frau, Mitte zwanzig. Stimmt das oder nicht?«
»Es …« Lügen würde nichts bringen. »Ja. Wir haben eine Leiche gefunden, auf die diese Beschreibung passt. Ja.«
Abrupt ließ die Frau seinen Arm los. Sie japste, als wäre sie kurz davor zu ersticken, doch dann fing sie sich wieder und blickte ihn erneut eindringlich an. »Ist das … ist es meine Tochter?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er leicht verwirrt. Erneut ein Japsen. »Haben Sie Ihre Tochter denn bei uns als vermisst gemeldet?«
Sie lachte bitter. »Vor über einer Woche!«
»Wie heißt sie?«
»Adele. Adele Harrison. Ich bin ihre Mutter, Paula. Paula Harrison.«
»In Ordnung. Wie sieht Ihre Tochter aus?«
»Ungefähr so groß wie ich, ein bisschen stämmiger, dunkle Haare …«
»Schwarz?«
Sie nickte, den Blick immer noch unverwandt auf Phil gerichtet, und wartete auf seine nächsten Worte.
»Wir glauben, dass wir die Leiche bereits identifiziert haben, Ms Harrison. Ich darf keine Einzelheiten über laufende Ermittlungen herausgeben, aber falls sich was Neues ergeben sollte, melden wir uns sofort bei Ihnen.«
Mit einem Mal schien sämtliche Luft aus ihr zu entweichen, und ihre Knie wurden weich. Phil kannte diese Zeichen nur allzu gut: Sie war nicht tot, aber auch nicht richtig lebendig. Die Tyrannei der Hoffnung, hatte Marina es einmal genannt.
Marina. Er hatte seit Stunden nicht an sie gedacht, und an Josephina auch nicht. Aber jetzt war keine Zeit für Schuldgefühle. Nicht während der Arbeit. Den Luxus würde er sich für später aufheben.
»Und wo ist Adele dann?«
»Ich weiß es nicht. Das ist nicht mein Fall, tut mir leid.«
»Das andere Mädchen, das man ständig im Fernsehen sieht, ich wette, bei der geben Sie sich Mühe, was?«
Phil wusste keine Antwort.
»Ich wette, die kriegt Ihre ganze Aufmerksamkeit. Und meine Adele kriegt nichts. Für sie interessiert sich niemand auch nur einen Dreck. Meine Tochter verschwindet, und niemand tut was dagegen, niemand macht einen Scheißfinger krumm!«
Ihre Stimme war kurz davor überzuschnappen. Wenn sie den Mund aufmachte, konnte Phil die Bissspuren auf ihrer Unterlippe sehen. Sie war mit den
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