Der Stalker
irgendwann.
Der Hauch eines Lächelns zuckte um Annis Mundwinkel. »Wird das jetzt eine ›Wegen gestern Abend‹-Ansprache? Ist schon in Ordnung.«
»Du hast das völlig falsch verstanden.« Mickey spürte, wie seine Wangen zu glühen anfingen. »So hatte ich es gar nicht gemeint.«
Sie sah ihn verschmitzt an. »Nicht? Wie denn dann?«
Er sah sich um, ob jemand zuhören konnte. Jane Gosling ging direkt hinter ihm, gefolgt von Rose Martin und Ben Fenwick, die in ein Gespräch vertieft waren. Rose sah verärgert aus.
»Nicht hier«, raunte er.
»Ein Mann voller Geheimnisse«, sagte sie lächelnd. »Und ich bekomme den Schlüssel dazu?«
Mickey schüttelte seufzend den Kopf. Er war sich sicher, dass er Anni vertrauen konnte. Von allen Kollegen schien sie die zugänglichste zu sein. Diejenige, die am wenigsten taktierte.
Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht und bogen um die Ecke. Anni legte ihm eine Hand auf den Arm. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich hab bloß Spaß gemacht.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich muss gleich los, Zoes und Suzannes Patienten befragen. Aber später bin ich wieder im Büro.« Sie lächelte ihn an. »Oder du rufst mich einfach an.«
Fiona Welch eilte vorbei und hatte eine so wichtige Miene aufgesetzt, als befände sie sich in einer Folge von The West Wing – Im Zentrum der Macht .
»Okay, dann bis später«, sagte er, drehte sich um und ging Richtung Bar zurück.
Hoffentlich war er nicht knallrot im Gesicht.
Er ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Seufzte. Blickte sich um. Fiona Welch saß ganz hinten an ihrem Platz. Sie wirkte wie unter Strom und starrte angestrengt auf den Bildschirm ihres Rechners. Ihre Lippen bewegten sich in einem stummen Monolog.
Ja, vielleicht würde er Anni wirklich anrufen.
Er wandte sich seiner eigenen Aufgabe zu, den ellenlangen Fahrzeughalterlisten. Er sah ein, dass seine Arbeit notwendig war, trotzdem hätte er sich gefreut, wenn ein klein wenig mehr Nervenkitzel im Spiel gewesen wäre.
Fiona Welch lachte leise auf, dann beugte sie sich wieder zum Bildschirm.
Hoffentlich war das, was er mit Anni besprechen wollte, nicht bloß Einbildung. Hoffentlich würde es sich bewahrheiten.
Oder vielmehr: hoffentlich nicht.
60 Anni stand vor der Tür und drückte auf die Klingel.
Das Haus lag weit draußen in Coggeshall, einem der fotogensten Städtchen in ganz Essex. Trotzdem erfüllten Orte wie dieser Anni immer mit einem gewissen Unbehagen. Die Hauptstraße und die abzweigenden Gassen waren von alten, windschiefen Fachwerkhäusern mit schindelgedeckten Dächern, Pubs mit Regency-Fenstern und malerischen Cottages aus rotem Backstein gesäumt, die eine ganz bestimmte unerschütterliche Tradition verkörperten und eine konservativ bis reaktionär gesinnte Klientel anzogen, in deren Gesellschaft sie sich als Frau, dazu noch schwarz und Daily Mail -Verächterin, nicht sonderlich wohl fühlte.
Die Klingel, auf die sie gedrückt hatte, war aus den 1970ern und damit allemal moderner als das übrige Haus – das sah aus, als stamme es aus den Siebzigerjahren des vorletzten Jahrhunderts. Im Vergleich zu seinen Nachbarn war das Haus in nicht ganz so gutem Zustand. Die Farbe der Fensterrahmen blätterte ab, die Tür hätte einen neuen Anstrich vertragen können, und der Vorgarten war nicht ganz so liebevoll gepflegt wie nebenan. Anni sah auf ihrer Liste nach. Das Haus gehörte einem Schriftsteller.
Sie hatte sich noch einmal Suzanne Perrys und Zoe Herriots Patientenliste vorgenommen. Alle, die bei ihnen in logopädischer Behandlung gewesen waren. Zum Glück hatten die beiden noch nicht lange im Krankenhaus gearbeitet, die Liste war also nicht allzu umfangreich, wenngleich geographisch und sozial breit gestreut. Kinder hatte Anni sofort gestrichen. Sie kamen als Verdächtige nicht in Frage, und sie würde nur dann auf sie zurückkommen, wenn sie unter den Erwachsenen nicht fündig wurde. Möglicherweise gab es ja irgendwo einen rachsüchtigen Elternteil oder ein anderes Familienmitglied. Aber so recht glaubte sie nicht daran, weshalb ihre Aufmerksamkeit zunächst den Erwachsenen galt.
Dann hatte sie alle verdächtigen Kandidaten mit Julie Millers Patientenliste verglichen. Es gab insgesamt drei Überschneidungen. Beim ersten Patienten stand sie nun vor der Tür. Er war nach einem Schlaganfall zur Sprachtherapie geschickt worden. Anni lagen seine wichtigsten Daten aus der Krankenakte vor. Schriftsteller,
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