Der Stalker
Anfang fünfzig. Starker Trinker, Kettenraucher. Leichter bis mittelschwerer Schlaganfall. Er hatte bislang gut auf die Behandlung angesprochen und wurde in drei Monaten zur Nachuntersuchung erwartet.
Sie wartete, dass ihr jemand öffnete.
Die Szene in der Zelle am Morgen hatte sie tief erschüttert. Ein grauenvoller Anblick. Sie hatte von solchen Fällen gehört, aber noch nie einen mit eigenen Augen gesehen. Schon gar nicht bei jemandem, den sie selbst befragt und als Verdächtigen ins Spiel gebracht hatte.
Anthony Howe. Als Fiona ihr Profil vorgestellt hatte, war ihr sofort sein Name in den Kopf gekommen. Er passte perfekt. Sie hatte so ein Triumphgefühl verspürt, als sie mit ihm aufs Revier gekommen waren. Eine tiefe Befriedigung, weil sie wusste, dass sie ihren Job gut gemacht hatte. Und dann das. Eine völlig unvorhersehbare Wendung. Hatte er es getan, weil er schuldig war oder weil er unschuldig war? Sie wusste es nicht. Sie konnte nur hoffen, dass er durchkam, damit sie ihn fragen konnten.
Aber der richtige Schocker war erst danach gekommen. Ihr Boss hatte seinen Vorgesetzten niedergeschlagen. Sicher, es hatte schon öfter Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden gegeben, so was passierte fast täglich. Starke Persönlichkeiten gerieten eben aneinander, wenn sie unter Druck standen, das war keine große Sache. Aber dass jemand so in Rage war, dass er Fenwick auf die Bretter schickte … Und noch dazu Phil. Ihm hätte sie das nie im Leben zugetraut. Klar, es hatte Zeiten gegeben, da hätte sie mit Fenwick am liebsten dasselbe getan, aber trotzdem …
Sie hatte niemandem etwas davon gesagt. Erstens weil sie wusste, dass es ihr nicht zustand, und zweitens weil es nicht in ihrem eigenen besten Interesse war. Außerdem handelte sie bestimmt nicht in Phils Sinne, wenn sie die Sache ausplauderte. Und ganz egal, was in letzter Zeit zwischen ihnen vorgefallen war, sie war ihrem Boss gegenüber nach wie vor loyal.
Und dann war da noch Mickey. Mit seinem abstehenden Haar, dem selbstverliebten Lächeln und smarten Anzug hatte sie ihn als einen typischen jungen Ehrgeizling abgetan, der sich für den Herrscher des Universums hielt. Sir Fuck-a-lot, nur weil er ein paar Schurken eingebuchtet, Prügel verteilt und es bis zum DS gebracht hatte. So hatte sie auch seinen Anruf am Vorabend gesehen, aber sein Verhalten eben auf der Treppe hatte ihr ein ganz anderes Bild vermittelt. Er war ernst gewesen. Angespannt geradezu. Irgendetwas schien ihm zu schaffen zu machen. Langsam glaubte sie, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte.
Und wie er rot geworden war, als sie ihn am Arm gefasst hatte. Irgendwie süß. Sie lächelte bei der Erinnerung daran.
Aber nur kurz. Sie würde garantiert nichts mit einem Kollegen anfangen. Nicht nach dem, was beim letzten Mal passiert war.
Aber vielleicht hatte er ihr ja wirklich etwas Wichtiges zu sagen. Mal sehen, ob er anrief.
Die Haustür wurde geöffnet, und vor ihr stand ein kleiner, untersetzter Mann. Seine Haare waren vollständig ergraut, und er sah alt genug aus, um der Vater des Mannes zu sein, den sie sprechen wollte. Er betrachtete sie argwöhnisch.
»Keith Ridley?«, fragte sie und hielt ihm ihren Dienstausweis hin.
»Ja?« Seine Stimme zitterte genauso stark wie die Hand, die die Tür aufhielt.
»Detective Constable Anni Hepburn. Dürfte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?«
Er trat zur Seite, um sie hereinzulassen, und schloss die Tür hinter ihr.
Spätestens jetzt waren alle Gedanken an ihre streitenden Vorgesetzten, an Mickeys unbeholfenen Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und an Anthony Howes missglückten Selbstmord vergessen. Anni konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe, die vor ihr lag.
Eine knappe Dreiviertelstunde später stand sie wieder draußen im Sonnenschein und strich Ridley von ihrer Liste.
Er schrieb Krimis, wie sie erfahren hatte, allerdings hatte sie noch nie eins seiner Bücher gelesen. Überhaupt war seine wahre Berufung wohl eher die Selbstzerstörung. Während ihres Gesprächs hatte er ununterbrochen geraucht oder einen Schluck aus der Dose Lager genommen, die auf der Armlehne seines Sessels stand.
Er hatte ihr gesagt, er wisse selbst nicht, warum er einen Schlaganfall erlitten habe, es müsse etwas Erbliches sein. Seine Frau sei Lehrerin und gerade in der Schule, er sei allein zu Hause. Er arbeite an einem neuen Roman, hatte er behauptet, obwohl er, als sie ins Wohnzimmer kamen, den Fernseher ausgeschaltet hatte, wo gerade
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